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Die Schweiz riskiert Fachkräftemangel

Électriciens dans le bâtiment
Elektriker in einem Neubau. Das Baugewerbe gehört zu jenen Wirtschaftszweigen, denen es an Arbeitskräften mangelt. Keystone

Die Arbeitslosenquote ist auf 2,4% gesunken. Die Nachricht ist nicht so gut, wie sie auf Anhieb tönt. Eine robuste Wirtschaft wie jene der Schweiz – das Wachstum dürfte im laufenden Jahr 2,4% erreichen – braucht ein gewisses Mass an verfügbarer Muskelkraft und Köpfchen. Landwirtschaft, Gesundheit und Maschinenbau leiden bereits unter einem Arbeitskräftemangel.

Die Experten der Eidgenössischen Kommission für Konjunkturfragen waren seit langem nicht mehr so optimistisch. Die Exporte sind gegenüber dem Vorjahr um fast 5% gestiegen, die Staatsausgaben mit nur 0,7% und die Konsumentenpreise mit 0,6% nahmen in einem vernünftigen Ausmass zu.

Ein Wachstum von 2,4% und eine Arbeitslosenquote von 2,4%. Im Mai lag die Zahl der bei regionalen Arbeitsvermittlungszentren registrierten Personen bei knapp 110’000, was einem Rückgang von 18% gegenüber dem Vorjahr entspricht. Und diese Verbesserung betrifft alle Altersgruppen junger Menschen (15-24 Jahre) sowie Menschen über 50 Jahre. Alle unsere Nachbarn können uns beneiden.

Also alles in Ordnung? Nicht ganz. Denn in bestimmten Berufen, wie der Elektrotechnik, der Uhrenindustrie, dem Werkzeugbau, wird es bei vollen Auftragsbüchern immer schwieriger, die erforderlichen Mitarbeiter zu rekrutieren. Auch in der Land-, Forst- und Viehwirtschaft herrscht Arbeitskräftemangel. Warum Kartoffeln pflanzen, wenn man niemanden findet, der sie ernten kann?

Mit einer Arbeitslosigkeit von 2,4% herrscht nahezu Vollbeschäftigung. Und diese Situation kann skurrile Auswirkungen haben. “In der Gastronomie ist es bereits schwierig, Servicepersonal zu finden. Deshalb zögern wir, ungeeignete Mitarbeitende loszuwerden, weil es nicht einfach sein wird, diese zu ersetzen”, sagt der Besitzer eines Restaurants in Lausanne.

Zugegeben, um Angestellte zu finden, reicht es meistens, die Gehälter zu erhöhen. Aber Spitäler beispielsweise sind an Vorschriften gebunden, die dies nicht zulassen.

Fachkräfte Mangel: Wo?

  • Ingenieurberufe
  • Managementberufe
  • Techniker
  • Recht
  • Gesundheitsberufe
  • Informatikberufe
  • Werbung/Tourismus/Treuhänder
  • Lehre/Ausbildung
  • Technische Besonderheiten 

Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs sind die französischsprachigen Kantone der Schweiz nach wie vor am stärksten von Arbeitslosigkeit betroffen. Im Kanton Neuenburg erreichte diese 4,5%, 4,3% in Genf, im Jura 3,6% und in der Waadt 3,5%.

In Appenzell Innerrhoden hingegen, wo die Arbeitslosenquote nur 1% beträgt, sorgt die Rekrutierung für Kopfzerbrechen bei den Arbeitgebern. In Obwalden ist es noch schlimmer. Dort ist die Arbeitslosenquote sogar auf 0,7% gesunken. Eine Situation, die KMU zwingt, Aufträge abzulehnen.

Landesweit ist die Liste der Berufe mit Arbeitskräftemangel lange: IT, Recht, Metallverarbeitung, Maschinenbau, Transport, Bauwesen, Gesundheit. Im IT-Bereich dürfte sich die Situation (etwas) ändern, nachdem Nestlé Ende Mai den Abbau von 580 Stellen in der Schweiz ankündigte, davon rund 500 im IT-Bereich in Vevey, Lausanne und Bussigny.           

Ein Viertel der Unternehmen bestraft      

Oliver Adler, Chefökonom der Credit Suisse und Autor der Studie “Strategien zur Bewältigung des Fachkräftemangels”, sagte in einem Interview mit der Tageszeitung “La Tribune de Genève”, dass die Hälfte der Unternehmen, die Stellen besetzen wollten, bereits unter Fachkräftemangel leiden würden. “Rund ein Viertel der befragten Unternehmen – 90’000 KMU – sind sogar mit einem akuten Mangel konfrontiert”, sagt er. Laut der Studie hat dieser Faktor “einen sehr hohen Einfluss auf den Erfolg der KMU”. Ein allgemeiner Fachkräftemangel würde sich besonders negativ auf die Qualität des Wirtschaftsstandortes Schweiz für KMU auswirken. Mit der Bezeichnung “qualifizierte Arbeitskräfte” sind nicht unbedingt ETH-Absolventen, Ärzte oder Ingenieure gemeint, sondern auch Techniker mit Erfahrung in der Metallverarbeitung oder Elektrotechnik.  

Arbeitslosenquote in einigen Kanton

  • Zürich 2,5%
  • Bern 1,7%
  • Freiburg 2,4%
  • Tessin 2,5%
  • Wallis 2,7%
  • Thurgau 1,9%
  • Graubünden 1,5%
  • St. Gallen 1,8%

Schweiz 2,4%

Es ist zwar möglich, Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren. In der Schweiz sind etwas mehr als 320’000 Grenzgänger beschäftigt. Eine Zahl, die noch geringfügig zunimmt. Das Problem ist jedoch, dass am 1. Juli jene Massnahmen “gegen die Masseneinwanderung” in Kraft treten, die aus der Abstimmung vom 9. Februar 2014 resultierten. Sie betreffen die Verpflichtung der Arbeitgeber, ab 1. Juli 2018 die regionalen Arbeitsvermittlungsstellen über freie Stellen in Berufsgruppen mit einer Arbeitslosenquote von über 8% zu informieren (ab dem 1. Januar 2020 Berufsgruppen mit einer Arbeitslosenquote von über 5%).

In seinem Blog schrieb Etienne Piguet, Professor für Geographie an der Universität Neuenburg, im vergangenen Februar ironisch, dass ein Arbeitgeber einen Gipser (11,4% Arbeitslose) erst nach fünf Tagen aus der EU wird einstellen können. Einen Floristen (1,6%) oder einen Käser (1,8%) könnte er hingegen sofort aus Polen oder Portugal engagieren.

Viel wird sich nicht ändern. Die Massnahme ist aber eine (kleine) Einschränkung der Personenfreizügigkeit gegenüber der EU. Sie soll den Arbeitslosen, die “den Appetit der Unternehmen auf Zuwanderung” beklagen, ein wenig Hoffnung geben.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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