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“Die Schweiz hat keinen näheren Verwandten als Österreich”

Velor-Rennfahrer überqueren auf einer Brücke die Grenze Österreich-Schweiz.
In der Schweiz kümmert es nur wenige Leute, was ennet der östlichen Grenze geschieht. Keystone / Eddy Risch

Die Parlaments-Wahlen werfen in Österreich derzeit so hohe Wellen wie selten zuvor. Das scheint im Nachbarland Schweiz kaum jemanden zu kümmern. Ursula Plassnik, österreichische Botschafterin in der Schweiz, hat kein Verständnis für das mangelnde Interesse. "Es geht uns an, was in der Nachbarschaft geschieht."

Die Schweizer Medien behandeln die Wahlen in Österreich ziemlich stiefmütterlich. In den wenigen Berichten, die dazu erschienen sind, geht es vor allem um die Schlammschlacht im Wahlkampf der SPÖ und ÖVP sowie um die angebliche Neo-Nazi-Vergangenheit des FPÖ-Chefs. 

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swissinfo.ch: Wer sich in den Schweizer Medien über Österreichs Wahlen ins Bild setzen will, könnte den Eindruck bekommen, unser östlicher Nachbar habe vom demokratischen Musterschüler zur Bananen-Republik mutiert. Steht es wirklich so schlimm um Österreichs Politik?

Ursula Plassnik: Von Bananen-Republik ist keine Rede. Aber wir erleben einen intensiven Wahlkampf. Es dürfte einige Veränderungen in der Innenpolitik geben. Das Interesse der Österreicherinnen und Österreicher für die Parlamentswahlen am Sonntag ist sehr gross.

Ursula Plassnik
Ursula Plassnik ist bereits zum zweiten Mal österreichische Botschafterin in der Schweiz: 1984 bis 1986 und seit 2016. Die erfahrene Diplomatin kennt sich nicht nur in Wien und Bern aus. Bis vor einem Jahr war sie Botschafterin in Frankreich. Zuvor amtete sie mehrere Jahre in Wien als Kabinettschefin von Wolfgang Schüssel. Von 2004 bis 2008 war sie Aussenministerin. Von 2008 bis 2011 gehörte sie für die ÖVP dem Nationalrat an. epa / Justin Lane

swissinfo.ch: Weshalb müssen uns die Wahlen in Österreich hier etwas angehen?

U.P.: Die Schweiz hat innerhalb der Europäischen Union keinen näheren Verwandten als Österreich. Wir sind durch eine lange Geschichte verbunden. Sehr viele Schweizerinnen und Schweizer leben und arbeiten in Österreich und umgekehrt, sie tragen zum Erfolg unserer Länder bei. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr eng. Wir haben ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis. Daher geht es uns an, was in der Nachbarschaft geschieht.

swissinfo.ch: Die Rechtsnationalen sind auch in Österreich auf dem Vormarsch. Laut Prognosen liegt die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) etwa gleichauf mit der sozialdemokratischen SPÖ auf Platz zwei hinter der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Inwiefern ist sie vergleichbar mit der Schweizerischen Volkspartei (SVP).

U.P.: Der Vergleich mit der SVP führt nicht sehr weit. Bei der FPÖ gibt es heute niemanden, der auch nur daran denken würde, Österreichs Beitritt zur EU zu widerrufen. Es gibt derzeit keine politische Kraft, die den Austritt Österreichs aus dem Euro oder der EU verlangt.

swissinfo.ch: Kann man mit einer EU-feindlichen Politik in Österreich derzeit keine Stimmen machen?

U.P.: Die Österreicher kritisieren alles Mögliche an der EU, und das ist auch gut so. Aber das heisst noch lange nicht, dass sie aus der EU austreten möchten. Erst recht nicht nach dem Brexit.

swissinfo.ch: Warum ist “Öxit” kein Thema? 

U.P.: Das ist auch ein pädagogischer Erfolg der Regierungsbeteiligung der FPÖ der Jahre 2000 bis 2006. In dieser Zeit dürfte die Partei verstanden haben, dass die Mehrheit der Österreicher mit einer extrem europakritischen Positionierung nicht erreichbar ist.

swissinfo.ch: Stimmen holen konnte man in Österreich mit einem harten Kurs in der Flüchtlingspolitik. Hat sich auch Aussenminister Sebastian Kurz (ÖVP) damit eine gute Ausgangslage für das Amt des Bundeskanzlers geschaffen?

U.P.: Da sollte man präziser sein. Österreich hat 2015 etwas erlebt, was man in der Schweiz nicht in dieser Deutlichkeit wahrgenommen hat. Damals gab es in einer kurzen Zeitspanne eine grosse Flüchtlings- und Migrationswelle mit knapp 100’000 Erst-Asylanträgen. Das ist für ein Land der Grösse Österreichs eine sehr beachtliche Zahl. Dass dies Fragen im Umgang damit aufkommen liess, liegt auf der Hand. Deshalb hat dieses Thema im Wahlkampf die grösste Rolle gespielt. Wenn Sie sich dazu die Positionierungen der drei grösseren Parteien anschauen, stellen Sie fest, wie nahe aneinander diese liegen.

swissinfo.ch: Abgesehen von seinem harten Kurs in der Flüchtlingspolitik, wofür steht Kurz eigentlich sonst noch?

U.P.: Kurz bringt frischen Wind und ist ein sehr professioneller Politiker. Jetzt ist er seit vier Jahren Aussenminister und hat gezeigt, dass er eine Linie verfolgt und diese auch umsetzen kann, etwa bei der Schliessung der Balkan-Route. Er hat es auch verstanden, das Thema Integration, das weitgehend von den Freiheitlichen besetzt war, in eine konstruktive Bahn zu lenken und dafür zukunftsweisende Massnahmen und Lösungen zu entwickeln und umzusetzen.

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swissinfo.ch: Diese Woche haben die Tageszeitungen ‘Tages-Anzeiger’ und ‘Der Bund’ über eine angebliche Neo-Nazi-Vergangenheit des FPÖ-Chefs Heinz-Christian Strache berichtet. Stimmt das?

U.P.: Österreich hat die strengsten Gesetze gegen Nazis und Neonazis. Über die Natur der Freiheitlichen gibt es seit Jahren immer wieder Mutmassungen. Ich verweise auf ein internationales Gutachten des Jahres 2000. Damals ergriffen die Mitgliedstaaten der EU gegen Österreich Sanktionen, weil das Land eine Regierung aus den Christdemokraten und den Freiheitlichen gebildet hatte. In diesem Zusammenhang wurden die Freiheitlichen sehr kritisch unter die Lupe genommen. Das Gutachten kam zum Schluss, dass die FPÖ eine rechtspopulistische Partei, aber keine Partei von Neo-Nazis sei.

Im Übrigen war die FPÖ bisher zwei Mal an Bundesregierungen beteiligt, 1983-1986 mit der SPÖ, 2000-2006 mit der ÖVP.

swissinfo.ch: Laut Prognosen dürfte die SPÖ viele Stimmen verlieren. Damit würde die Jahrzehnte alte Koalition mit der ÖVP zu Ende gehen. Können Sie sich ein Bündnis der ÖVP mit der FPÖ vorstellen?

U.P.: Die ‘grosse Koalition’ hat in Österreich eine lange Tradition, ab 1945 war sie die Regel. Je nach Ausgang der Wahlen ist eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ möglich. Nicht ausgeschlossen ist aber auch eine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ. Die Sozialdemokraten haben mit ihrem Wertekompass genau für diesen Fall ihre Grundsätze etabliert, unter denen sie für Koalitionsverhandlungen zur Verfügung stünden.

Wahlen in Österreich

In Österreich kämpfen seit rund 20 Jahren auf verschiedenen Ebenen drei Parteien um Platz 1: Die Österreichische Volkspartei (ÖVP), die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ), die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ). Vor der Wahl vom 15. 10. 2017 stehen einige Fragezeichen: Regiert weiterhin eine “Grosse Koalition” (ÖVP-SPÖ) oder gibt es eine schwarz-blaue Koalition (ÖVP-FPÖ)? Bleibt SPÖ-Kanzler Christian Kern im Amt oder wird Sebastian Kurz – derzeit Aussenminister der ÖVP – der nächste Bundeskanzler?

swissinfo.ch: Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) muss um seine Wiederwahl fürchten. Als er vor wenigen Monaten antrat, galt er noch als Hoffnungsträger für einen Neuanfang. Was hätten seine Anhänger denn von ihm erwartet?

U.P.: Er kommt aus der Wirtschaft, und er verhiess Veränderungen, auch im politischen Stil. In der Politik schlug er einen ‘New Deal’ vor. Er weckte damit Erwartungen an eine Reformkraft, die Österreich guttun könnte. Ob er diese für seine Anhänger erfüllt hat oder nicht, wird sich am Wahltag zeigen. 

swissinfo.ch: Der Wirtschaft in Ihrem Land geht es sehr gut. Ist dies nicht der Politik des Bundeskanzlers zu verdanken?

U.P.: Österreich hat den Ausstieg aus der Krise nach 2009 besser geschafft als andere Länder und befindet sich auf einem guten Pfad. Das ist ein Stück weit das Werk der Politik. Aber viele Österreicherinnen und Österreicher schreiben dies nicht der Politik der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers zu, sondern bringen es in Zusammenhang mit der weltweiten Wirtschaftsentwicklung und der Tüchtigkeit der österreichischen Unternehmen.

swissinfo.ch: Zum Schluss zurück zu den österreichisch-schweizerischen Beziehungen: Die Schweizer werden von vielen Bürgerinnen und Bürgern im Ausland um ihre direkte Demokratie beneidet. Gilt das auch für Ihre Landsleute?

U.P.: Das Wissen über das sehr fein entwickelte und komplexe System der direkten Demokratie der Schweiz ist in anderen Ländern sehr bruchstückhaft. Man beruft sich aus opportunistischen Gründen ganz gern auf einzelne Elemente.

Die Schweizer Demokratie ist aber nicht die einzige der Welt oder zwangsläufig das grosse Vorbild für alle anderen. Als ehemalige Aussenministerin habe ich festgestellt, dass sich jedes der 193 UNO-Mitglieder als Sonderfall betrachtet. Wir sollten einander nicht vorhalten, wer die bessere Demokratie-Formel gefunden hat. Auch in der österreichischen Verfassung gibt es eine ausgeprägte direktdemokratische Dimension.

Schlammschlacht

Laut Medienberichten hat ein Team des israelischen Kampagnen-Spezialisten Tal Silberstein, dem einstigen Berater der SPÖ, mit gefälschten Facebook-Seiten den Aussenminister und ÖVP-Chef Sebastian Kurz zu diskreditieren versucht.

Die SPÖ liess dazu verlauten, dass abgesehen von einer einzigen involvierten Person niemand in der Partei von diesen Machenschaften gewusst habe. Ausserdem sei die Zusammenarbeit mit Silberstein bereits beendet worden, nachdem dieser in Israel kurzzeitig wegen Korruptionsermittlungen festgenommen worden war.

Auch die ÖVP kam unter Druck: Laut österreichischen Medien hat der Pressesprecher von Aussenminister Kurz dem PR-Berater, der die erwähnten Facebook-Seiten operativ leitete, 100’000 Euro geboten, wenn dieser “die Seiten wechsle” und Informationen über die Kampagne der SPÖ verrate.   

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