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Politik in der türkischen Diaspora: jenseits einfacher Erklärungen

Türkisches Stimmlokal in Bern
Türkischer Staatsangehöriger bei der Stimmabgabe in Bern am 27. März 2017. In der Schweiz stimmten bloss 38 % der Türken für das Verfassungsreferendum. Keystone

Die kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen in der Türkei haben Aufschluss darüber gegeben, wie die Diaspora in Europa politisch tickt. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein Blick in das politische Gewebe der Auslandtürken.

Die türkischen Mitbürger in der Schweiz haben das Verfassungsreferendum 2017 abgeschmettert. Bei den kürzlich abgehaltenen Präsidentschaftswahlen bekamen die Kandidaten der linken Parteien CHP und HDP, Muharrem Ince und Selahattin Demirtas, zusammen mehr Stimmen als Präsident Recep Tayyip Erdogan. Nicht so in Deutschland, wo sowohl das Referendum als auch Erdogan grosse Zustimmung erfuhren.

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Gewiss – der grosse Anteil Türken kurdischer Herkunft in der Schweiz war sicher ausschlaggebend dafür, dass sich die Wahl- und Stimmresultate in der Schweiz so stark von Deutschland unterschieden. Aber die Diaspora bloss in Kurden und Türken oder in pro- und anti-Erdogan-Lager aufzuteilen, würde ihrer vielfältigen politischen Ausprägungen nicht gerecht.

Diaspora ist nicht gleich Diaspora

Im Gegensatz zu Deutschland, wo die meisten Türken dank dem AnwerberabkommenExterner Link ab 1961 einwanderten, gab es in der Schweiz keineExterner Link vergleichbaren ZahlenExterner Link. Erst ab den 1980er-Jahren nahm auch bei uns die Anzahl türkischer Mitbewohner merklich zu. Diese kamen aber nicht primär der Arbeit wegen, sondern weil sie in der Schweiz um Asyl baten.

Zuerst suchten vor allem Linke und Intellektuelle Schutz in der Schweiz. In den 1990er-Jahren dann mehrheitlich Kurden, die im Laufe des eskalierenden Konflikts zwischen der türkischen Armee und der bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in der Südosttürkei das Land verliessen. Diese beiden Migrationsepisoden gab es sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz.

Polarisierung spürbar

Heute ist die türkische Gesellschaft sowohl in ihrer Heimat als auch im Ausland zunehmend gespalten. Das zeigen nicht nur die Resultate der Wahlen und des Referendums, sondern auch die vermehrt gewalttätigen Proteste in der Türkei. Doch Erdogan ist nicht der einzige Spitzenpolitiker, der derart polarisiert hat.

Auch in der Amtszeit von Premierminister Adnan Menderes (1950-1960) sei die Gesellschaft stark gespalten gewesen, meint der Berner Politiker Hasim SancarExterner Link (Grüne), der selber 1982 aus der Türkei in die Schweiz migrierte. Menderes habe die Islamisierung vorantreiben wollen und Gewalt gegen die griechischen Mitbürger geschürt. Er wurde 1960 vom Militär aus dem Amt geputscht – ein Vorgang, der seither leider zur Tradition geworden sei.

Die Türkisch-islamische Synthese bezeichnet einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Staat und Religion, der im Zuge des Militärputschs vom 12. September 1980 vollzogen wurde. Mit dieser neuen ideologischen Ausrichtung wollten die Machthaber in der Türkei den links- und rechtsextremistischen Tendenzen und dem politischen Islam entgegenwirken. Die Synthese verbindet türkischen Nationalismus und kemalistische Vorstellungen eines starken Staates mit einer moderaten und antikommunistischen Sicht des Islam. Quelle: Bundeszentrale für politische BildungExterner Link (bpb)

Staatsstreiche der Armee ereigneten sich noch drei weitere Male (1971, 1980, 1997). 2016 erfolgte ein fünfter Putsch, der allerdings scheiterte.

1980 als Wendepunkt

Für die Diaspora war besonders der Vorfall von 1980 von grosser Bedeutung. Ihm gingen gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremen und eine Reihe politisch motivierter Morde voraus. Das Militär entmachtete den damaligen Premierminister Süleyman Demirel mit der Begründung, die öffentliche Ordnung wiederherstellen zu müssen.

Laut Sancar war dieser Militärputsch aber in erster Linie eine Intervention gegen die Linke. Als ideologisches Gegengewicht entwickelten die Putsch-Generäle die sogenannte “Türkisch-islamische Synthese” (siehe Box), die aber mit der Zeit auch für sie zum Problem wurde. Denn das Militär unterstützte eher eine kemalistisch-republikanische Staatsform.

Staatsstreich: Panzer der türkischen Armee in auf dem Kizilay-Platz, Ankara, am 12. September 1980.
Staatsstreich: Panzer der türkischen Armee auf dem Kizilay-Platz in Ankara am 12. September 1980. Keystone

Auslandtürken mobilisieren Auslandtürken

Alexander ClarksonExterner Link vom King’s College London, der sich intensiv mit der Diaspora in Deutschland befasst hat, sieht im Militärputsch von 1980 einen Katalysator für ein sich verstärkendes Klassenbewusstsein der Deutsch-Türken. Bis 1980 gab es noch keine wirklich kohärenten, stark ideologischen Strukturen in der Diaspora, die vor allem aus Arbeitern bestand. Doch nach dem Putsch von 1980 musste ein Grossteil der türkischen Elite und der linken Intellektuellen fliehen, viele migrierten nach Deutschland, aber auch in die Schweiz. Insbesondere in Deutschland fanden sie eine grosse Community vor, die sie nach ihren Vorstellungen mobilisieren konnten.

Sancar fügt hinzu, dass die Mobilisierungskraft der geflüchteten Intellektuellen in den sozialkritischen Solidaritätskundgebungen und Demonstrationen der 1980er-Jahre in Europa ausserordentlich stark gewesen sei und letztlich das Fundament für eine aktive linksgerichtete Diaspora gelegt habe.

Wie ticken die Linken? 

Ihm zufolge lassen sich die Linksparteien HDP und CHP in der Diaspora ideell nicht deutlich trennen, obschon es freilich Unterschiede gebe. Die HDP werde vor allem von den Kurden, anderen Minderheiten wie den Assyrern und von feministischen und marxistischen Kreisen unterstützt.

Die CHP hingegen steht für die klassische, etablierte Sozialdemokratie. Zweifellos seien die vorab genannten Gruppen auch bei der CHP vertreten. Doch einige HDP-Anhänger störten sich an der Staatsnähe der CHP und ihrer systemfreundlichen Politik, meint der Grünen-Politiker.

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Wer wählt wen?

“In den Gemeinden, die sich eher zu ihrem europäischen Heimatland hingezogen fühlen und in denen viele Doppelbürger vertreten sind, ist die Bindung zum türkischen Staat schwächer. Dort verorten wir die klassischen CHP- und HDP-Wähler”, erklärt Diaspora-Forscher Clarkson.

Diejenigen Türken hingegen, die in der dritten und vierten Generation immer noch eine stärkere Bindung zur Türkei als zu dem Land haben, in dem sie geboren wurden, wählten normalerweise AKP, meint Clarkson. Erdogan-Wähler in der europäischen Diaspora seien aber primär staatstreu und erst in zweiter Linie Erdogan-treu. Erdogan werde als starker Mann mit einem starken türkischen Staat gleichgesetzt.

Diese Gruppe der staatsnahen Auslandtürken habe es immer gegeben und sei dank dem Zugang zu staatlichen Kommunikationsmitteln sehr präsent und lautstark. Trotzdem könne man nicht von einer strukturellen Mehrheit der Erdogan-Anhänger sprechen, denn die politischen Identifikationsmuster seien bei Weitem nicht so nuanciert wie in der Türkei selbst.

Für Sancar ist das Resultat der Wahlen und des Referendums vor allem zwei Faktoren geschuldet: den disparaten Strategien der Oppositionsparteien und dem starken Netz an AKP-nahen Plattformen zur Mobilisierung der konservativen Teile der Diaspora. Die Moschee-Dachorganisation Diyanet und die Bewegung des Predigers Fetullah Gülen spielten hier eine grosse Rolle, wobei sich letztere 2013 zerwarf und in Gülen- und Erdogan-Anhänger aufspaltete.

Nicht zuletzt hätten die diplomatischen Schlagabtäusche und die verbalen Entgleisungen von europäischen und türkischen Politikern dazu geführt, dass sich der konservative Teil der Diaspora geradezu reaktiv mit dem türkischen Staat zu identifizieren begann. 

Der “türkische Adenauer”

Die Polarisierung in der Diaspora und in der Türkei nimmt zu. Die diplomatische Stimmung zwischen der Türkei und Europa hat einen Tiefpunkt erreicht. Da geht leicht vergessen, dass die Zeichen schon mal besser standen.

Clarkson verweist beispielsweise auf Erdogans Initiative zur Befriedung des Kurdenkonfliktes, die auf eine gewisse Offenheit bei den Kurden in der Türkei und in Europa stiess. Bei den Linken in der Diaspora bestand diese Hoffnung noch weitaus länger als in der Türkei. In Deutschland sei Erdogan lange Zeit sogar als “türkischer Adenauer” betrachtet worden, der mit der AKP und einer “islamischen Christdemokratie” das Land modernisieren würde.

Auch Sancar räumt ein, dass erst Erdogan das Kurdenproblem als Tatsache anerkannt und sich um eine Verhandlungslösung bemüht habe – zumindest bis nach dem Verlust der absoluten Mehrheit bei den Wahlen vom Juni 2015, worauf auch er sich von diesem Kurs verabschiedete.

Festgehaltene Doppelbürger

Nach wie vor sind acht schweizerisch-türkische Doppelbürger, die sich in der Türkei befinden, von einer Ausreisesperre betroffen. Es ist nicht bekannt, ob die Personen aus administrativen Gründen das Land nicht verlassen können oder ob die Sperre gerichtlich verfügt worden ist.

Im JuliExterner Link gab der türkische Botschafter in der Schweiz bekannt, dass die Personen nach Ablauf des Ausnahmezustands am 18. Juli ausreisen können. Drei Wochen nach dieser Frist werden sie weiterhin an der Ausreise gehindert. 

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) gibt bekannt, dass es im Kontakt mit den betroffenen Personen steht und mehrere Male diplomatisch interveniert hat. Das letzte Gespräch auf diplomatischer Ebene fand am 8. August mit dem Geschäftsträger der türkischen Botschaft in Bern statt. Der Fall werde mit hoher Priorität behandelt. 

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