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Wenn nur die Auslandschweizerinnen und -schweizer wählen würden…

Swissinfo Redaktion

In der Berichterstattung zum soeben publizierten SRG-Wahlbarometer ist fast untergegangen, wo sich die grösste aller Veränderungen abzeichnet: bei den Auslandschweizerinnen- und schweizern. Die Auslege- und Einordnung.

Gemäss jüngstem SRG-Wahlbarometer für die Schweizer Parlamentswahlen vom 20. Oktober hätten die Mitglieder der Auslandschweizer Community Ende August 2019 zu 23% die Grüne Partei (GPS) gewählt.

“Wer vom Ausland aus politisch aktiv ist, identifiziert sich in der Regel stark mit der Schweiz, hat ein hohes politisches Interesse.”

Damit wären die Grünen erstmals überhaupt stärkste Partei gewesen, vor der FDP mit 18%, SP und SVP mit je 16%, GLP mit 11% und CVP mit 8% gefolgt (Box zu den Parteien unten).

Markant sind die Veränderung gegenüber dem Wahlbarometer vom Juni 2019. Damals lag die SVP noch vor der SP und der FDP an der Spitze. Erst dahinter folgten die Grünen an vierter Stelle.

Das spricht für einen gründlichen Grünrutsch gerade unter den ausgewanderten Schweizerinnen und Schweizern, die von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen wollen. Denn die Grünen gewannen in weniger als drei Monaten sieben Prozentpunkte hinzu. Umgekehrt verlor die SVP mit einem Minus von sieben Prozentpunkten am meisten.

Claude Longchamp ist einer der renommiertesten Politikwissenschafter und -analyst der Schweiz.

Er war Gründer des Forschungsinstitutes gfs.bernExterner Link, dessen Direktor er bis zu seiner Pensionierung war. Er ist nach wie vor Präsident des Verwaltungsrats. Longchamp analysierte und kommentierte während 30 Jahren Abstimmungen und Wahlen am Schweizer Fernsehen SRF. 

Für swissinfo und dessen Demokratieplattform #DearDemocracy schreibt Longchamp jeden Monat eine Kolumne im Hinblick auf die Schweizer Wahlen 2019.

Der Politikwissenschaftler und Historiker ist Autor zweier Blogs: ZoonpoliticonExterner Link über Politikwissenschaft sowie Stadtwanderer Externer Linküber Geschichte. 

Globale Klimadebatte wirkt sich aus

Der Hauptgrund für die neue Tendenz ist offensichtlich: Die Klimadebatte wird seit Anfang 2019 global geführt. In Europa, ja überall auf der Welt, gibt es Schülerstreiks. Sie wollen die Öffentlichkeit aufrütteln und längst bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel popularisieren.

Damit will die Generation Greta politisches Handeln zugunsten des Pariser Abkommens für eine verstärkte CO2-Politik einleiten.

Das zeigt Wirkung, neu auch bei den Mitgliedern der Fünften Schweiz: Man kann diese als eigentliche Speerspitze bei der neuen grünen Welle bezeichnen. Denn die Schweizer Grünen und die GLP sind heute im Ausland stärker als im Inland. Und die Grünen wachsen unter den Ausgewanderten deutlich schneller als bei den Inlandschweizern.

Rahmenabkommen als Dauerbrenner bleibt

Die Öko-Frage steht allerdings nicht alleine da. Unverändertes Hauptproblem der Fünften Schweiz ist die Schweizer Europapolitik. Auch da ist die Betroffenheit der Auslandschweizerinnen und -schweizer gegeben. Sie fürchten, dass sie bei einem gänzlichen Scheitern des Rahmenabkommens mit der EU negative Auswirkungen zu spüren zu bekommen.

Unterstützt wird diese Auffassung durch die dritte grosse Sorge, die sich um die schwindende wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit des Landes dreht.

Dieses Sorgenbündel wird heute namentlich der SVP angelastet, die sich konsequent gegen die EU-Integration der Schweiz stellt und welche die Kündigung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU zum Ziel hat. Wenigstens im Wahlbarometer erhält sie dafür eine deutliche Quittung, und zwar im Aus- wie im Inland.

Geringe Wahlbeteiligung

Selbstredend soll man aber zurückhaltend bleiben, aufgrund einer Online-Umfrage weitreichende Aussagen über alle Auslandschweizerinnen und -schweizer zu machen. Denn die Wahlbeteiligung der Fünften Schweiz ist insgesamt gering: 2015 beteiligte sich genau ein Viertel der als Wahlberechtigte registrierten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer bei den Nationalratswahlen.

Bezogen auf die knapp 800’000 Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben, gaben gar weniger als fünf Prozent ihre Stimme ab.

Hauptgründe für die Abstinenz

Hauptgrund hierfür ist die andere Lebenswelt der Auslandschweizerinnen und -schweizer. Probleme in der Schweiz erscheinen häufig weniger bedeutsam, und man will sich als Auslandschweizer oder Auslandschweizerin nicht zu stark einmischen.

Wer vom Ausland aus politisch aktiv ist, identifiziert sich in der Regel stark mit der Schweiz, hat ein hohes politisches Interesse und kann sich auch unter erschwerten Umständen einfach eine Meinung bilden.

Es gibt aber auch Hürden: Die wichtigste ist die Zeit, die es braucht, bis das Wahlmaterial eintrifft und retourniert ist. Anders als im Inland, wo man sich zur Not auch erst am Wahlsonntag entscheiden kann, ist Wählen und Abstimmen bei Schweizerinnen und Schweizern im Ausland meist ein Prozess von Wochen.

Problematisch sind vor allem die zweiten Wahlgänge für den Ständerat, die kleine Kammer der Kantonsvertreter. Denn hier sind die Fristen kurz, als dass sich Schweizer Expats daran beteiligen könnten.

Selektive Beteiligung wahrscheinlicher

Wie im Inland auch, ist die Beteiligung der Auslandschweizerinnen und -schweizer an Wahlen, besonders aber bei Abstimmungen, selektiv: Ob man teilnimmt oder nicht, hängt vom Thema und der Problematisierung via Internet ab.

Wie bei allen gesellschaftlichen Gruppen mit geringer Beteiligung macht die Mobilisierung im konkreten Fall viel aus.

Wenn das Thema auch im Ausland interessiert und die Problematisierung der Folgen von Volksentscheidungen hoch ist, beteiligen sich mehr Schweizer Stimmende, und zwar im In- wie im Ausland.

Das Beispiel der Volksabstimmung vom 26. Februar 2016 zeigte dies: Als es um die konsequente Ausschaffung kriminell gewordener Ausländerinnen und Ausländer aus der Schweiz ging, wie es die SVP in einer Volksinitiative forderte, beteiligten sich über 35 Prozent der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.

In der französischsprachigen Schweiz beteiligten sich vor allem jene, welche die Initiative befürworteten. In der deutschsprachigen Schweiz dagegen liessen sich die Gegnerinnen und Gegner zusätzlich mobilisieren.

Progressivere Auslandschweiz

Systematisch kennt man das Stimmverhalten der Fünften Schweiz seit einer Studie, die auf der Auswertung von insgesamt 62 Volksabstimmungen zwischen 2002 und 2017 basiertExterner Link.

Klarer für Reformen war die Ausgewanderten namentlich beim Familienartikel, der Energiewende, der Rentenreform und der erleichterten Einbürgerung. Sichtbar wurde ein Trend zu Unterschieden auf der Achse zwischen “Konservativ vs. Modern”: Schweizerinnen und Schweizer im Ausland stimmen zunehmend moderner, jene im Inland bleiben konservativer.

Unterschiedliche Mehrheiten sind dennoch recht selten. Ein solcher Fall kommt in etwa einer von sieben Volksabstimmung vor und ist meist nicht relevant.

Das war etwa bei der SVP-Volksinitiative “Gegen Masseneinwanderung” typischerweise der Fall. Die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer lehnten sie deutlich ab, während die Inlandschweizerinnen und -schweizer knapp für die autonome Steuerung der Zuwanderung war – genau so, wie auch das Gesamtergebnis lautete.

Wenn die Auswirkungen auf die nationalen Ergebnisse der Volksabstimmungen gering bleiben, hat dies mit dem Gewicht aller stimmberechtigten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zu tun.

Die Gesamtheit aller Schweizerinnen und Schweizer im Ausland macht rund zehn Prozent der Nation. Bei Abstimmungen aber liegt ihre Beteiligung fünf Mal tiefer. Mit rund zwei Prozent der Stimmenden sind sie etwa so stark wie die Kantone Neuenburg oder Schwyz.

Fazit: ein kleiner, aber wachsender Graben

Immerhin: In der auslaufenden Legislaturperiode verdichteten sich bei Volksabstimmungen die Hinweise, dass die unterschiedlichen Optiken zwischen Ausland- und Inlandschweizerinnen und -schweizern wachsen. Wie gesagt macht sich bei den Stimmenden in der Fünften Schweiz ein Trend zu progressiven Werthaltungen breit.

Das findet aktuell seinen Ausdruck in den dezidierteren Reaktionen auf zwei der grossen Herausforderungen der Schweiz: mehr Europa und mehr Klimaschutz sind die Gebote der Stunde aus Sicht der Fünften Schweiz.

Den Parteien bleiben noch gut fünf Wochen, sich auf diese Stimmen einzustellen.
 

Die Parteien mit Fraktionsstärke im Parlament

SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)

SP: Sozialdemokratische Partei (links)

FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)

CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/rechts)

GPS: Grüne Partei der Schweiz (links)

GLP: Grünliberale Partei (Mitte)

BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)

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