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“In Frankreich erleben wir einen Mentalitätswandel”

Porträt von Joachim Son-Forget
Joachim Son-Forget, bei seiner Geburt in Seoul ausgesetzt, ist heute Arzt am Lausanner Universitätsspital und ein passionierter Cembalist. swissinfo.ch / Frédéric Burnand

Joachim Son-Forget wird nächsten Sonntag bei den zweiten Parlamentswahlen wahrscheinlich als Abgeordneter der Franzosen in der Schweiz ins nationale Parlament gewählt werden. Ein Gespräch mit einem dieser "Neuen" in der Politik von "La République en Marche", der Partei von Präsident Emmanuel Macron.

Der Kandidat von “La République en Marche” für die Schweiz, Joachim Son-Forget (34-jährig), hat im ersten Wahlgang der französischen Parlamentswahlen den einzigen Abgeordneten-Sitz der Franzosen in der Schweiz und in Liechtenstein gewonnen – mit 64,93% der Stimmen. Der Sieg dürfte im zweiten Wahlgang bestätigt werden.

swissinfo.ch: Weshalb sind Sie in die Politik eingestiegen und weshalb in der Bewegung von Emmanuel Macron?

Joachim Son-Forget: Es ist gleich wie in meinem Beruf als Arzt und meiner Leidenschaft als Cembalist. Es gibt einen humanistischen Bereich in diesen beiden Berufen. Es geht auch um Kommunikation mit den anderen in der Absicht, ihnen zu helfen. Während ein Arzt einer Person nach der anderen hilft, kann man mit einer politischen Aktion einer grösstmöglichen Anzahl helfen.

swissinfo.ch: Ist dies ihre erste Erfahrung in der Politik?

J.S.F.: Ich hatte mich für die sozialistische Partei interessiert. Aber die Erfahrung mit dieser Partei hat mir sehr missfallen. Wie in anderen Parteien kämpfen die Leute mehr gegeneinander als für die gemeinsamen Ideen oder die Suche nach guten Lösungen – aus purem Dogmatismus, sowohl auf der linken wie der rechten Seite.

Aber die Person von Emmanuel Macron, der wirklich versucht, neue Ansichten in den Vordergrund zu stellen, hat mich begeistert. Aus diesem Grund haben wir vor einem Jahr “En Marche” gegründet, eine Bewegung, der ich von Beginn weg im April 2016 beigetreten bin.

swissinfo.ch: Ärzte stellen Diagnosen. Welche Diagnose stellen Sie für Frankreich?

J.S.F.: Meine erste Diagnose ist, das Frankreich bei weitem nicht klinisch tot ist, sondern alle Trümpfe hat, um zu bester Gesundheit zu gelangen. Das Land leidet unter Demenz, ist sich seiner Verwirrtheit aber nicht bewusst.

Ich weiss, dass mein Mandat schwierig sein wird, falls ich nächsten Sonntag gewählt werden sollte, weil wir auf einer komplizierten Grundlage starten. Aber wir haben grosse Ressourcen. Und die Franzosen haben derzeit wirklich den Willen, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Es gibt einen Willen zum Konsens und den Willen, sich die Ärmel hochzukrempeln.   

swissinfo.ch: Ist es also diese positive Einstellung gegenüber Problemen, die Macron während der Wahlkampagne entwickelte, die am besten zündet?

J.S.F.: Emmanuel Macron hat den Franzosen das Vertrauen zurückgegeben, das durch die politische Blockierung ruiniert war. Er sendet starke Zeichen: Die Leute sind wieder stolz, Franzosen zu sein, und haben Lust, vorwärts zu schreiten. Dieser Elan wird Frankreich und Europa wiederbeleben.

swissinfo.ch: Emmanuel Macron verkörpert eine neue Generation von Politikern. Aber seine Neuheit besteht darin, auf das Fundamentale der Republik zurückzukommen, nicht zuletzt mit deren Symbolen und Riten, aber ohne in Nationalismus und Konservatismus abzugleiten. Das ist erstaunlich! 

J.S.F.: Ich finde das sehr gut. Man sollte Fortschrittliches nicht gegen Konservatives ausspielen. Fortschritt bedeutet auch, die Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, um die Zukunft zu antizipieren.

Das Amt des Präsidenten wird mit Macron einen gaullistischen Anstrich bekommen, aber mit neuen Personen, die Frankreich endlich ins 21. Jahrhundert führen werden. Es handelt sich also nicht um Jugendwahn.

Die politische Arena kann hart sein. Aber wenn es uns gelingt, sie aufzufrischen, wird der Wille vielleicht stärker, den politischen Ränkespielen zu entkommen, wo versucht wird, sich gegenseitig zu schaden. Aber ich bin auf mögliche Brutalitäten vorbereitet, durch meine Erfahrungen im Spital und international in der Balkanregion und im Mittleren Osten.

swissinfo.ch: In welcher Eigenschaft?

J.S.F.: In absolut unabhängiger Eigenschaft, aus Interesse an anderen Kulturen der Welt. In der Schweiz hatten mir kosovarische Freunde von ihrem Land erzählt. Deshalb ging ich dorthin als Arzt arbeiten. Ich habe allerlei Leute kennengelernt: Journalisten, Politiker, Musiker. Ich habe diese Sprache und andere gelernt. Eine reiche Erfahrung, dank der ich mehr weiss als gewisse internationale Vertreter. Wer in die Zivilgesellschaft integriert ist und in die Realität vor Ort eintaucht, kann manchmal nützlicher sein als internationale Technokraten. Die Balkanländer befinden sich am Rand Europas. Die künftige Entwicklung dieser Puffer-Region wird zeigen, ob das europäische Experiment ein Erfolg sein wird oder nicht.

Gestützt auf diese Erfahrungen des vertrauensvollen Zuhörens und Verstehens anderer Kulturen mache ich Politik.

swissinfo.ch: “La République en Marche” dürfte eine grosse Mehrheit im Parlament erreichen, während die anderen Parteien mehr oder weniger platt gewalzt werden. Besteht da nicht die Gefahr von Hegemonie?

J.S.F.: Diese Mehrheit repräsentiert verschiedene Tendenzen, aber vereint im gemeinsamen Willen, den Vertrag mit dem Land zu respektieren und das Programm von Emmanuel Macron umzusetzen. Wir werden eine Meinungsvielfalt haben, aber auf konstruktive Weise. Trotz unserer unterschiedlichen Herkunft – viele sind politische Novizen – arbeiten wir seit einem Jahr zusammen.

Innerhalb der Bewegung gibt es kein einheitliches Denken. Wir haben eine Diskussions- und Konsenskultur aufgebaut, ähnlich wie in der Schweiz.

Wir beteiligen uns an einem Mentalitätswandel, der es zum Beispiel erlauben wird, Berufszweige aufzuwerten, zu zeigen, dass Erfolge mannigfaltig sind. Das scheinen die Franzosen, anders als die Schweizer, vergessen zu haben.  

swissinfo.ch: Was konkret ziehen Sie aus Ihren Erfahrungen in der Schweiz für ihr wahrscheinliches Abgeordneten-Mandat?

J.S.F.: Wenn sich die Wahl bestätigt, werde ich dazu beitragen, die Schweiz von den Klischees zu befreien, die man in Frankreich von diesem Land haben kann. Ich hoffe auch, Botschafter der guten Ideen sein, die in der Schweiz umgesetzt wurden und die Frankreich helfen könnten. Dazu gehört das bekannte duale Berufsbildungs-System, die Konsenskultur, die enge Bindung an ein Bildungssystem hoher Qualität und der Energie-Wandel, den die Schweiz vollziehen will.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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