Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Die Rückkehr des Religiösen ist eine Illusion

Im kleinen Massstab: Modellkirche für den Festumzug am Zentralschweizer Jodlerfest von Juni 2012 in Lachen am Zürichsee Keystone

In der Schweiz wie auch im übrigen Europa distanzieren sich immer mehr Leute von der Religion. Trotzdem wird immer wieder von einer Rückkehr des Religiösen gesprochen. Eine optische Illusion sei dies, meint der französische Forscher Olivier Roy.

Der französische Schriftsteller André Malraux hatte ein religiöses 21. Jahrhundert prophezeit. Eine Voraussage, die sich bislang nicht bewahrheitet hat. Dies zeigt die Studie “Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft” (NFP 58), die im Rahmen eines Forschungsprogramms des Schweizerischen Nationalfonds durchgeführt wurde.

Olivier Roy, Autor verschiedener Bücher über den Islam, hat auch La Sainte Ignorance. Le temps de la religion sans culture (Die heilige Ignoranz. Die Zeit der Religion ohne Kultur – Le Seuil, 2008) publiziert. Der Leiter des Nationalen Forschungszentrums (CNRS) in Paris ist nicht erstaunt über die Resultate der Schweizer Studie.

swissinfo.ch: Eine grosse Mehrheit der Schweizer Bevölkerung ist Religion und Spiritualität gegenüber zwar nicht gleichgültig oder negativ, jedoch distanziert eingestellt. Kann diese Haltung auch anderswo beobachtet werden?

Olivier Roy: Das liegt voll und ganz auf der Linie des gesamten Europas. In traditionell religiösen Ländern wie Polen, Irland oder Italien finden wir zwar nicht zwingend eine laizistische, atheistische oder antireligiöse Bewegung, aber auch dort gehen die Leute immer mehr auf Distanz mit der etablierten Religion.

swissinfo.ch: Gilt diese Entwicklung nur für Europa?

O.R.: Sie ist vor allem in Europa sichtbar. Aber auch in den Vereinigen Staaten kann man diese Tendenz beobachten. (Die Zahl der Personen, die sich als atheistisch bezeichnen, stieg innert 20 Jahren von 7 auf 14%.) Aber die Sichtbarkeit des Religiösen, die viel stärker ist als in Europa, nimmt seit rund 40 Jahren zu, insbesondere auf politischer Ebene.

Ob aber auch in muslimischen Ländern wirklich eine Zunahme religiöser Praktiken besteht, wird von vielen Leuten bezweifelt, auch wenn dazu Statistiken fehlen.

In Asien ist das Phänomen analog. In buddhistischen Ländern existiert eine vage Religiosität, die nicht zwingend durch starke Praktiken zum Ausdruck kommt. Dort ist sie Teil der Kultur.

Und wie überall gibt es einen Durchbruch religiös-fundamentalistischer Bewegungen. Die Zunahme des Fundamentalismus geht Hand in Hand mit jener des Säkularismus.

swissinfo.ch: Gemäss der Schweizer Studie verfügen die institutionellen Gläubigen über ein eher tiefes Bildungsniveau, die Distanzierten und Laizisten über ein mittleres und die Alternativen über ein eher hohes Niveau. Ist das nicht erstaunlich?

O.R.: Nein. Bei jenen Leuten, die neue Formen von Religiosität praktizieren, handelt es sich eher um solche, die über ein Bildungs-Rüstzeug verfügen, das ihnen ermöglicht, im Internet zu suchen, zu lesen etc. Zudem können sie quasi als Autodidakten eine religiöse Kultur schaffen, indem sie aus dem Markt des Religiösen schöpfen.

swissinfo.ch: Ihre Recherchen zeigen, dass die Religiosität oft von ihrer Kultur, ihrer Geschichte abgetrennt ist.

O.R.: Ich glaube, dass die religiöse Dekulturation allgemein gültig ist. Kultivierte Menschen wissen zwar nicht unbedingt mehr über das Christentum als andere. Aber sie haben einen besseren Zugang zu anderen Religionen, wie etwa zum Buddhismus – dank Reisen oder Lektüre.

swissinfo.ch: Infolge der Revolution der Aufklärung haben die Religionen ihren totalitären Charakter, der die ganze Gesellschaft umfasste, verloren. Wir sind also noch immer in dieser Dynamik, obwohl immer wieder die Rückkehr des Religiösen heraufbeschworen wird.

O.R.: In der Tat. Die Säkularisierung schreitet weiter voran. Das ist die Hauptthese meines Buches. Denn was man als Rückkehr des Religiösen bezeichnet, ist gar keine. Man kommt nicht zurück auf frühere Formen der Religionen. Diese Religionen befinden sich sehr wohl in einer Krise, sie stagnieren oder sind rückläufig.

Was sich jedoch entwickelt, sind die charismatischen Bewegungen im Christentum, die jüdische Loubavitch-Bewegung oder jene der Salafisten im Islam. Diese Bewegungen sind extrem kritisch gegenüber den klassischen religiösen Institutionen und der traditionellen religiösen Kultur. Der Fundamentalismus gedeiht in der religiösen Dekulturation.

Man könnte meinen, die Bewegung der Säkularisierung münde automatisch im Triumph der Vernunft und dem Ende jeglicher Suche nach Religiosität. Für einen Teil der Bevölkerung, nämlich die Laizisten, ist dies der Fall. Aber bei vielen Menschen besteht der Wunsch nach Spiritualität. Diese bildet sich heutzutage um neue Formen der Religiosität herum, auch im Rahmen traditioneller Religionen.

swissinfo.ch: Ist dieses Streben marginal oder nimmt es an Bedeutung zu?

O.R.: In Europa manifestiert es sich nicht in einer Zunahme religiöser Praktiken. Es gibt mehr Menschen, welche die Kirchen verlassen, als Leute, die sich neuen religiösen Formen zuwenden. Aber diese neuen Formen sind viel sichtbarer, einfach deshalb, weil sie sich nicht in die traditionelle religiöse Landschaft einfügen.

Sie verfügen über eine Sichtbarkeit, die weit über der Realität liegt. Dies zeigt die Abstimmung über das Minarett-Bauverbot in der Schweiz, einem Land, das keine Vermehrung von Minaretten kennt. Das gleiche Phänomen kennen wir aus Frankreich mit der ganzen Polemik um Burka und Halal-Fleisch. Auch bei der Polemik um die Knaben-Beschneidung in Deutschland, Österreich und der Schweiz zeigt sich dieses Phänomen, auch wenn diese Praktik zurückgeht.

Man konzentriert sich auf ein Symbol, ein religiöses Wahrzeichen, das umgehend polemisiert wird. Von da stammt der Eindruck einer religiösen Welle, die durch statistische Daten keineswegs untermauert wird.

In den letzten Jahren hat die Zahl der Konfessionslosen zugenommen. Sie liegt bei rund 25% der Bevölkerung.

Aber die Tatsache, dass sich eine Person als einer Konfession zugehörig bezeichnet oder als konfessionslos sagt noch nichts aus über ihre Praktiken oder Vorstellungen. Auch Konfessionslose können an Gott glauben oder eine alternative Spiritualität praktizieren.

Die Forscher unterschieden zwischen vier Typen der Religiosität in der Schweizer Bevölkerung: Die Distanzierten (64%), die Institutionellen (17%), die Laizisten (10%) und die Alternativen (9%).

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Gruppe der Institutionellen stark vermindert. Der Anteil der Alternativen hat sich kaum verändert, während Distanzierte und Laizisten zahlreicher geworden sind.

(Quelle: NFP 58)

(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft