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Ostern in der Russisch-Orthodoxen Gemeinde im Tessin

An der Osterfeier 2016 der Russisch-Orthodoxen Gemeinde im Tessin. swissinfo.ch

2016 wurde die Russisch-Orthodoxe Gemeinde im Tessin fünf Jahre alt. Wie fühlen sich die orthodoxen Gläubigen in diesem Südschweizer Kanton mit überwiegend katholischer Bevölkerung? Wie feiern sie Ostern? Und welche Meinung haben die Tessiner von ihren russisch-orthodoxen Nachbarn?

Ein Geistlicher im schwarzen Rock läuft die Strasse entlang. Es ist Vater Swjatoslaw, Vorsteher der russisch-orthodoxen Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Gemeinde der Russisch-Orthodoxen Kirche in Melide. Ein älterer Mann mit Hund begrüsst ihn. Sie bleiben stehen, kommen ins Gespräch, der Hund wedelt freundlich mit dem Schwanz, der Mann lächelt. Vater Swjatoslaw kennt in Melide fast jeder. In diesem Städtchen am Luganersee lebt er seit 2013.

“Vater Swjatoslaw ist ein sehr offener und herzlicher Mensch, und wir freuen uns immer, wenn wir ihm auf den Strassen unserer Stadt begegnen. Wir hoffen, dass er sich in Melide wie zu Hause fühlen wird”, so hatte der katholische Pfarrer Don Italo, Vorsteher der Kirche Santi Quirico e Giulitta, seinerzeit den orthodoxen Pfarrer in der Gemeindezeitung von Melide begrüsst. Während der letzten vier Jahre ist Melide für Vater Swjatoslaw tatsächlich zu einem zweiten Zuhause geworden.

Vater Swjatoslaw trägt das Taufbecken, mit dem ein Kind einer gemischt-religiösen Familie getauft wird (der Vater ist Tessiner, die Mutter stammt aus Sankt Petersburg). swissinfo.ch

Dominique Vuigner, Direktor des unweit vom Tempel gelegenen Freiluft-Museums Swissminiatur, meint: “Die Mitglieder der Russisch-Orthodoxen Gemeinde sind bescheidene, freundliche, aufrichtige und offene Menschen. Vater Swjatoslaw ist eine unheimlich gutherzige Person. Er hat Glück gehabt, hier eine kleine Wohnung gefunden und gemietet zu haben. Die Einwohner von Melide sind froh, solch einen Nachbarn zu haben.”

Swissminiatur habe gemeinsam mit der Russisch-Orthodoxen Gemeinde einige Feste organisiert. “Ich arbeite gerne mit ihnen zusammen, weil ich an die christlichen und menschlichen Werte der orthodoxen Kirche glaube, die in Europa leider verloren gehen. Ich kenne mehrere Familien, in denen der Mann aus dem Tessin stammt und die Frau Russisch-Orthodox ist oder umgekehrt. Diese Familien sind einträchtig und immer sehr gut integriert, sie haben Respekt vor unseren Gepflogenheiten und unserer Lebensweise.”

Wie die Gemeinde entstand

Alles begann vor sechs Jahren in Lugano, als zu den orthodoxen Gottesdiensten nur sechs, sieben Menschen erschienen. Mit freundlicher Genehmigung der Katholischen Gemeinde führte Vater Swjatoslaw diese Gottesdienste in der Kapelle Sant’Antonio Abate durch und lebte dabei in einer Mönchszelle im Kapuzinerkloster Lugano.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche der Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Gemeinde in Melide. swissinfo.ch

Allmählich wurde die Russisch-Orthodoxe Gemeinde immer grösser. Im Herbst 2012 konnten die Gemeindemitglieder in der Zeitung lesen, dass die hiesige Evangelisch-Lutherische Gemeinde eine kleine Kirche in Melide zu verkaufen beabsichtigte. Marc Zindel, Präsident der Evangelisch-Reformierten Kirchengemeinde Sottoceneri, erinnert sich: “Unsere Gemeinde, die einst gut tausend Mitglieder zählte, war in Melide aktiv tätig, besonders vor dem zweiten Weltkrieg. 1931 wurde die Kirche gebaut.”

Bis zum Jahr 2000 sei aber die Mitgliederzahl zurückgegangen, letzten Endes hätten nur noch zwei, drei Personen die Gottesdienste besucht. “Im Endeffekt haben wir beschlossen, die Kirche zu verkaufen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass sie zu religiösen Zwecken genutzt wird. Den Erlös aus dem Verkauf wollten wir für die Sanierung der reformierten Kirche im Zentrum von Lugano ausgeben. Zum Glück wurde das Kirchengebäude von der Russisch-Orthodoxen Gemeinde gekauft.”

Einen Tempel in sich selbst bauen

Wenn man heute einen Blick in die Kirche wirft, bemerkt man gleich, dass hier umgestaltet wird. Bald wird man im Eingangsbereich Fliesen verlegen, das Dach muss auch in Ordnung gebracht werden. Ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster und beleuchtet strenge Heiligengestalten am neulich bemalten Altar. Im Nachbargarten hört man Vögel singen.

“Wir streben danach, dass jeder von uns eine persönliche Beziehung zu Gott aufbaut und dass wir alle gute Beziehungen zueinander aufbauen. Hier müssen wir wie eine grosse Familie sein und miteinander so umgehen, als wären wir Geschwister. Den Rest – Asphalt, Beton, Steine, Fliesen – werden wir mit Gottes Hilfe schon hinkriegen”, sagt der Vorsteher.

Orthodoxe und Katholiken feiern dieses Jahr zusammen Ostern. Die Vertreter beider Konfessionen bereiten sich eigentlich auf die gleiche Art und Weise auf das Fest vor, und zwar, indem sie, so Vater Swjatoslaw, “unser Leben neu durchdenken. Wenn wir aber faul sind, keine seelische Arbeit leisten und uns nicht von den Sünden befreien, berührt uns dieses Fest nicht. Es ist quasi da, wird gefeiert, aber dringt nicht in unser Inneres ein”.

Doppelt fasten

In der Kirche stellt eine Frau die Kerzen zurecht. Sie trägt einen langen Rock, ihr Kopf ist mit einem Tuch bedeckt. Tatiana Tettamanti ist die Starosta (Russisch für “Obfrau”) der Gemeinde. Sie hob die Gemeinde aus der Taufe und ist immer bereit, eine helfende Hand zu reichen – sei es nun bei körperlichen Leiden oder seelischen Problemen.

Ihr Mann, der gebürtige Einheimische Paolo Tettamanti, erzählt: “Man fragt mich oft, wie die orthodoxe Lebensweise meiner Frau unser Familienleben beeinflusst. Vor allem fallen die kirchlichen Feiertage wie Weihnachten und Ostern zeitlich nicht zusammen. Wenn wir Weihnachten feiern, fastet Tatiana noch.”

Ein anderer Aspekt sei, “dass russisch-orthodoxe Gottesdienste sehr lange dauern und es vor den orthodoxen Feiertagen eine ganze Menge davon gibt. Die Vorbereitung zum Gottesdienst nimmt bei Tatiana viel Zeit in Anspruch, weil sie die Starosta der Gemeinde ist. Häufig gehen wir am Wochenende schnell einkaufen – das geistige Leben ist schon wichtig, aber das tägliche Leben will auch gelebt werden”.

Tatiana lacht: “Paolo hat auch ein Hobby – Hockey. Ich gehe in die Kirche und er geht zum Training!”

Musik und Samowar

Die Russisch-Orthodoxen Gemeindemitglieder in der italienischen Schweiz mögen und schätzen Musik sehr. Viele von ihnen sind Musiker und Sänger, z.B. Alexander Romanovsky oder Denis Monighetti aus dem Orchestra della Svizzera Italiana.

Und die Opernsängerin aus Sankt Petersburg Julia Gertseva gründete einen Kinderchor. Am 17. April findet in der Kirche Santa Lucia in Lugano unter Mitwirkung ihres Vorstehers, des katholischen Pfarrers Don Paolo Solari, ein Osterkonzert statt. Daran werden die jungen Schüler von Julia sowie die Mitglieder der Katholischen und der Russisch-Orthodoxen Gemeinde teilnehmen. Anschliessend wartet auf die Besucher eine traditionelle russische Teestunde.

Im vorigen Frühling sangen diese Kinder in einer Kirche in Mendrisio, und im Herbst wurde mit freundlicher Genehmigung der protestantischen Gemeinde ein Konzert im Gebäude der Evangelischen Kirche im Zentrum von Lugano veranstaltet. Nach Abschluss der Bauarbeiten in der Kirche in Melide sollen ein gemeinsamer Gottesdienst, ein Konzert und natürlich eine grosse Teerunde mit russischem Samowar stattfinden.

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