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Wenn der Traum einer Mutterschaft zum Albtraum wird

Seit 2012 reist die Ärztin Monika Müller Sapin, Mitglied von "Women’s Hope International", immer wieder nach Äthiopien und wie im Bild nach Bangladesch, um Ärzten unter anderem die Technik eines Kaiserschnitts beizubringen. courtesy Dr Monika Mueller Sapin

Stirbt ein Kind nach einer überlangen Geburt ohne medizinische Begleitung, bleibt die trauernde Mutter oft mit Verletzungen im Unterleib zurück. Die Folgen davon sind Inkontinenz, schlechter Geruch, Depressionen, Schmerzen und Ausschluss aus der Gesellschaft, was oft zu Selbstmord führt. Millionen von Opfern in armen Ländern leben diesen Albtraum. Die Schweizer Gynäkologin Monika Müller Sapin engagiert sich auf freiwilliger Basis innerhalb einer in Bern ansässigen NGO für die Prävention von Geburtsfisteln.

Monika Müller Sapin, die erste praktizierende Gynäkologin in der Stadt Freiburg – sie feiert dieses Jahr das 20-jährige Bestehen ihrer Praxis – hatte schon immer eine humanitäre Ader. 1985 erhielt sie in Basel das Diplom als Ärztin, reiste nach Simbabwe und verbrachte sechs Monate als Freiwillige in einem Spital in einer Randregion. Seither hat sie die Idee, in Entwicklungsländern Freiwilligenarbeit zu leisten, nie mehr losgelassen. Doch vorerst nimmt das Leben seinen Lauf: Arbeit, Heirat, Kinder.

Was ist eine Geburtsfistel?

Die Geburtsfistel ist eine der schlimmsten Verletzungen, die bei einer überlangen Geburt passieren kann. Es handelt sich dabei um eine Öffnung, die zwischen Scheide und Blase oder Darm entsteht, als Folge eines Geburtsstillstands mangels angemessener Versorgung. Durch die bleibende Öffnung treten Urin und/oder Stuhl aus Blase oder Enddarm unkontrolliert in die Scheide. Langfristig führt dies zu chronischen Schäden.

Die Auswirkungen sind oft verheerend: in den meisten Fällen stirbt der Säugling und die Frau leidet unter chronischer Inkontinenz.

Die Weltgesundheits-Organisation WHO schätzt, dass 2 Millionen Frauen, vor allem im südlichen Afrika und in Asien, an einer Geburtsfistel leiden, und dass es jährlich rund 50’000 bis 100’000 neue Fälle gibt.

(Quelle: Vereinte Nationen)

Als ihre zwei Söhne 2012 für einen einjährigen Studienaufenthalt in die USA reisen, ist für sie die Entscheidung gefallen, sich im humanitären Bereich zu engagieren. Zufällig kommt sie in Kontakt mit “Women’s Hope International”Externer Link (WHI), einer Organisation, die 2003 in Bern gegründet wurde mit dem Ziel, Frauen mit Geburtsfisteln langfristig zu helfen.

Die Chemie stimmt sofort. Fortan nimmt Müller Sapin an internationalen Kongressen zum Thema Fisteln teil und organisiert Spendenanlässe für WHI. Zudem ist sie Präsidentin der “Actions Humanitaires” der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und GeburtshilfeExterner Link und aktives Mitglied von “Zonta International”Externer Link, einem Klub, der ebenfalls für die Besserstellung der Frauen eintritt.

Doch vor allem tauscht sie während mehreren Monaten des Jahres ihre luxuriös eingerichtete Praxis mit den kärglich ausgestatteten öffentlichen Spitälern in Äthiopien oder Bangladesch. Dort lehrt sie auf freiwilliger Basis den Ärzten die Technik des Kaiserschnitts und den Umgang mit Ultraschall, die Hebammen macht sie vertraut mit den Präventionsmassnahmen von Geburtsfisteln.

swissinfo.ch: Nur wenige Leute wissen um die Existenz und Bedeutung der Geburtsfisteln. Dabei gibt es jedes Jahr tausende neuer Fälle…

Dr. Monika Müller Sapin: Es ist ein Thema, das praktisch unbekannt ist, sogar bei den Schweizer Gynäkologen. Dieses Leiden kommt in unserer Ausbildung gar nicht vor, weil es nur die Entwicklungsländer betrifft. Ich habe es auch erst vor vier Jahren durch “Women’s Hope International” (WHI) entdeckt.

Und obwohl man es meinen könnte, hat die Geburtsfistel nur ganz selten etwas mit Genitalverstümmelung zu tun. Hauptsächlich hängt das Leiden mit einer überlangen Geburt ohne medizinische Begleitung und der Unmöglichkeit eines Kaiserschnitts zusammen.

swissinfo.ch: Für Sie ist es aber offensichtlich ein Thema, das Sie sehr beschäftigt. Für den Kampf gegen die Geburtsfisteln haben Sie bereits mehrere Reisen nach Afrika und Asien unternommen.

M.M.S.: Als Gynäkologin war ich sofort fasziniert und auch berührt von diesem Thema, und ich habe sehr schnell die Chance erhalten, das Team von WHI in Äthiopien während einer Woche zu begleiten und dann 2012 drei Monate in einem öffentlichen Spital zu arbeiten. Zuerst landete ich in Addis Abeba im grossen spezialisierten Zentrum Hamlin Fistula HospitalExterner Link (HFH), das einen internationalen Ruf in der Fistelchirurgie hat. So habe ich angefangen, aktiv in der Ausbildung und der Prävention zu arbeiten.

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swissinfo.ch: Welche Eindrücke hatten Sie, als Sie die Opfer dieser Krankheit getroffen haben; ein Leiden, das in den reichen Ländern praktisch ausgerottet ist?

M.M.S.: Als ich diesen gut ausgerüsteten Operationssaal des HFH zum ersten Mal betrat – man muss dazu wissen, dass es sich um ein Privatspital handelt, das über grosse Mittel verfügt, also eine Ausnahme darstellt –, dachte ich, die Patientinnen hätten Polio. Doch man erklärte mir, dass eine Geburtsfistel auch zu Problemen bei der Beweglichkeit der Patientinnen führen kann.

In diesem Spitalzentrum gibt es oft eine lange Vorbereitungszeit für die Patientinnen vor ihrer Operation, weil sie nicht nur unter schwerer Inkontinenz leiden, sondern auch durch Mangelernährung, chronische Infektionen, ja sogar Lähmungen geschwächt sind.

In Bangladesch kommen die Patientinnen oft zu Fuss oder mit rudimentären Fortbewegungsmitteln ins Spital. Monika Mueller Sapin/Women’s Hope International

swissinfo.ch: Wie schränken Geburtsfisteln die Beweglichkeit ein?

M.M.S.: Erstens kann es bei einer überlangen Geburt bereits zu Verletzungen der Nerven im Becken kommen. Es kommt zur Inkontinenz, und die oft sehr jungen Frauen und Mädchen müssen isoliert und ausserhalb der Gemeinschaft in kleinen Hütten leben, wie Hunde. Sie stehen nicht mehr auf, bleiben liegen oder kauern, einem Fötus ähnlich, in einer Hocke. Sie fühlen sich schlecht, und in einer grossen Depression dämmern sie vor sich hin. In den Beinen entstehen Verspannungen, sie sind praktisch gelähmt.

Für eine vaginale Operation müssen die Beine aber gespreizt und wie für eine gynäkologische Untersuchung positioniert werden. Dazu braucht es vorgängig eine Physiotherapie. Nach dem chirurgischen Eingriff – wenn er gelingt – müssen die Frauen wieder das Gehen und die Mobilität einüben. Die nächste Etappe ist dann die Wiedereingliederung der Frauen in ihre Gemeinschaften und in das aktive Leben.

Fisteln sind ein Leiden der armen Leute in Ländern, wo es in den Spitälern an allem fehlt. Women’s Hope International Monika Mueller Sapin

swissinfo.ch: Der Erfolg einer Operation ist also nicht in jedem Fall garantiert?

M.M.S.: Eine Operation gilt als gelungen, wenn der Ausfluss gestoppt ist. Sie kann aber auch misslingen, weil das Gewebe in einem schlechten Zustand ist. Zieht man die Sonde zurück, kann das Gewebe erneut reissen, und es tropft wieder.

Es gibt Frauen, die mehrere Operationen hinter sich haben und denen man sagen muss, dass sie inkontinent bleiben werden. All dies könnte durch einen Kaiserschnitt verhindert werden. Man darf auch nicht vergessen, unter welchen Bedingungen die Frauen operiert wurden – in schlecht ausgerüsteten Spitälern in einer Randregion. Dort, wo Geburtsfisteln nur ein Problem unter vielen sind.

Ich zitiere einen treffenden Satz, den ich an einem internationalen Kongress zu diesem Problem gehört habe: “Das Problem der Fisteln widerspiegelt den Grad der Entwicklung eines Landes.” Die Rate der Geburtsfisteln in einem Land gibt also den Grad der Armut des Landes an. Stellen Sie sich nur die langen Distanzen vor, die eine schwangere Frau zurücklegen muss, bevor sie in einem Spital ankommt.

Zum miserablen Zustand der Infrastruktur, zum Mangel an Personal und Mitteln kommt noch der kulturelle Faktor hinzu in den Gesellschaften, in denen der Mann dominiert und über alles entscheidet. Er ist es, der sagt, wann die Frau das Recht hat, eine Vorsorgeuntersuchung durchführen zu lassen, wo sie gebären wird, ob er eine Zulassung zu einem Spital zahlt oder nicht.

Die Füsse in Urinlachen ist Teil des Alltags von Fistelopfern. Monika Mueller Sapin/Women’s Hope International

swissinfo.ch: Weigert sich der Mann zu zahlen? Oder fehlen vielen die Mittel dazu?

M.M.S.: Es ist beides. Ich war in einem öffentlichen Spital in Äthiopien bei einer Situation dabei, die mich tief betroffen hat. Ein Camion lud in tiefster Nacht eine beinahe sterbende Frau ab, mit Unterleibsblutungen und einem bereits toten Säugling. Und weil es keine Krankenversicherung gab, verlangte man von der Familie, sich zuerst an den Schalter des Spitals zu begeben – wenn er denn offen ist –, um das Material zu bezahlen.

Wir hatten nichts zur Verfügung: leere Schränke, nicht einmal ein paar Handschuhe, keine einzige Infusion. Und dies in einem relativ grossen Spital. Wir konnten nichts machen, bevor die Familie nicht mit dem Material zurückgekommen war.

Nach der Infusion mussten wir uns für eine Operation entscheiden. Doch die Verwandten hatten die Mittel dazu nicht. Nachdem ich die Patientin stabilisieren konnte, blieb mir als Ärztin nichts anderes mehr übrig, als ihr den Transport in ein anderes Spital zu bezahlen, wo sie dann glücklicherweise gerettet werden konnte. Doch andere Familien sind mit der Patientin abgereist, weil sie nicht zahlen wollten. Ihr Schicksal war klar: der Tod.

Für “Women’s Hope International”, müsste jede Frau das Recht haben, in Würde und mit der nötigen Versorgung gebären zu können, damit Mutter und Kind die Entbindungsstation in bester Gesundheit verlassen können. Monika Mueller Sapin

swissinfo.ch: Es geht also auch um die Würde und den Status der Frau…

M.M.S.: Solange es keine Wertschätzung und Anerkennung der Frau gibt, wird nichts investiert. Sie wird einfach ersetzt, es ist ein Desaster. Der kulturelle Einfluss ist enorm, und der Status der Frau hängt davon ab.

Deshalb führt der Kampf gegen die Fisteln auch über die Bildung der Mädchen. Verlassen sie die Hütten und gehen zur Schule, ist das Risiko einer Verheiratung im Alter von zehn oder 12 Jahren geringer, folglich sinkt auch das Risiko einer Schwangerschaft in einem Alter, in dem der Körper noch gar nicht bereit ist, ein Kind auszutragen.

Die Bildung der Mädchen wird sie auch vor den Mythen und dem Volksglauben schützen, die besagen, dass sie selber schuld seien an ihrem Leiden. Oft glauben die Opfer von Fisteln, dass die bösen Geister sie bestrafen wollen und dass die Fistel ein Fluch sei. Sie verlieren jede Selbstachtung. Dies erklärt auch die hohe Selbstmordrate unter den Opfern.

(Übertragen aus dem Französischen: Christine Fuhrer)

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