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Die perfekte Demokratie? Man sucht sie auch in der Schweiz vergeblich

Claude Longchamp, Politikwissenschafter und Historiker

Die Schweiz sei die älteste und beste Demokratie der Welt. Das sind zwei verbreitete Selbstbilder dieses Landes. Doch stimmen sie? Die Antworten der modernen Demokratieforschung fallen unterschiedlich aus.

Demokratie entstand nicht, wie oft gesagt wird, in der griechischen Antike. Das war nur ein lokales Zwischenspiel. Die Globalgeschichte lehrt, dass moderne Demokratien von modernen Revolutionen ausgehen und sich so schubweise über den Erdball ausbreiten.

“Das einzig vorbildliche Demokratiemuster gibt es heute nicht mehr.”

Die Wellen der Demokratisierung

Die erste Welle fand im 19. Jahrhundert statt. Sie begann 1828 in den USA, und sie endete 1922 in Italien.

Dafür setzte der zweite Schub in unserem südlichen Nachbarland ein, und er dauerte von 1943 bis 1962. Dabei wurden die totalitären Regimes in Deutschland, Italien und Japan demokratisiert. Die Dekolonisierung Jamaikas bildete hier das Finale.

1974 begann mit der Demokratisierung Portugals die dritte Welle. Sie erfasste Südeuropa und Lateinamerika wie Costa Rica oder Uruguay. Je nach Sichtweise dauert sie bis in die Gegenwart oder floss 1989 mit dem Zerfall der Sowjetunion nahtlos in eine vierte über.

In seiner neuen swissinfo.ch-Kolumne “Demokratie Schweiz aus internationaler Sicht” nimmt der Doyen der Schweizer Polit-Analyse Phänomene und Prinzipien der Schweizer Demokratie unter die Lupe. Dabei wird mancher Stolz zum Mythos.

Der jüngste Schub brachte Demokratie nach Osteuropa und Asien wie jüngst nach Taiwan.

Seither spricht man gerne von liberaler Demokratie nach angelsächsischem Vorbild. Diese ist geprägt durch Regierung und Opposition, durch demokratische Volksparteien und Marktwirtschaft mit Interessengruppen als Bestandteilen eines neuartigen politischen Systems, das bis heute nicht übertroffen wurde.

Die Schweizer waren Erneuerer

Auch die Demokratisierung in der Schweiz setzt in der ersten Welle ein. Die Schweizer waren Innovatoren: 1830 beginnt es im Kanton Tessin, 1848 folgt der Bund.

In der Frühzeit der Demokratie gab es noch kaum Vorbilder, weshalb man experimentierte.

●  Die USA erfanden die präsidentielle Demokratie mit dem Präsidenten als Ersatz-Monarchen.

●  In Grossbritannien entwickelte sich die parlamentarische Demokratie zur Einschränkung der Monarchie.

● Die Schweiz folgte dem revolutionären Frankreich mit der Idee der Republik.

Frühe Grenzen der Wahldemokratie

Die Demokratisierung der Schweiz im Sinne der Angelsachsen blieb aber unvollständig. Nach 1848 kam es im Bund zu keinem Wechselspiel von freisinniger Mehrheit und katholisch-konservativer oder linker Opposition.

Bis 1919 gewann die FDP (Box Parteien) alle eidgenössischen Parlamentswahlen – dank Majorz und Wahlkreismanipulation. Das endete erst, als der Nationalrat nach dem Proporzverfahren bestimmt wurde und die Kantone neu feste Wahlkreise bildeten. Prompt verlor danach die regierende FDP ihre Parlamentsmehrheit.

Seither ist die FDP auf Partner angewiesen, zuerst auf die heutige CVP, dann auf die heutige SVP. Zu einem vollständigen Regierungswechsel kam es aber ausser in einzelnen Kantonen nie. Vielmehr etablierte sich die Konkordanzdemokratie mit der dauerhaften Beteiligung aller grösseren Parteien, also auch der SP, an der Regierung im Bund. Die FDP ist so seit 172 Jahren Regierungspartei, was es sonst in Demokratien nirgends gibt.

Direkte Demokratie und Konkordanz als Alternative

Dennoch entwickelte sich die Demokratisierung der Schweiz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zu einem weltweit neuen Muster. 1874 kam auf Bundesebene das Referendum gegen Parlamentsbeschlüsse dazu, und 1891 folgte die Volksinitiative zur teilweisen Änderung der Bundesverfassung. Das gab es zu dieser Zeit sonst nirgends auf der Welt.

1894 überholte allerdings Neuseeland die Schweiz mit einer Verfassung, die erstmals das Erwachsenenwahlrecht und Volksrechte umfasste. In der Schweiz dauerte es noch bis 1971, bis die Frauen auf Bundesebene das Stimm- und Wahlrecht erhielten.

Überhaupt: Ausser in Sachen direkter Demokratie ist die Schweiz kein wirkliches Vorbild mehr.

Die Kritik der strengen Theoretiker

Die angelsächsische Demokratie-Theorie zögerte gar, Konkordanzdemokratien als vollwertige Alternative zur Konkurrenzdemokratie anzuerkennen. Gelobt wurde zwar die Integration von Bauern und Arbeitern in den Schweizer Bürgerstaat nach 1848. Kritik gab es aber am mangelnden Wettbewerb um die politische Macht – und damit verbunden an den hegemonialen Verhältnissen rund um die FDP.

(Auswahl)

SVP: Schweizerische Volkspartei (rechtskonservativ)

SP: Sozialdemokratische Partei (Links)

FDP.Die Liberalen: Freisinnig-Demokratische Partei (rechtsliberal)

CVP: Christlichdemokratische Volkspartei (Mitte/Rechts)

GPS: Grüne Partei (Links)

GLP: Grünliberale Partei (Mitte)

BDP: Bürgerlich-Demokratische Partei (Mitte)

Speziell bemängelt wird das Fehlen der Zuschreibung von Verantwortung für die Regierung. Versagt diese, soll sie durch die Wählerschaft abgewählt und durch eine neue ersetzt werden können. So lautet das das Credo der angelsächsischen Demokratie.

Was das heisst, zeigten die eidgenössischen Wahlen 2019. Alle vier Regierungsparteien verloren Stimmenanteile und die grünen Nicht-Regierungsparteien gewannen solche. Doch an der Zusammensetzung des Bundesrats änderte sich nichts. Im Ausland wäre dies undenkbar. 

Milde Bewertung der Demokratieforscher heute

Die globalisierte Demokratieforschung bewertet die Konkordanzdemokratie heute milder. Man hat erkannt: Das einzig vorbildliche Demokratiemuster gibt es heute nicht mehr, und auch repräsentative Demokratien sind nicht frei von erheblichen Mängeln.

● So verhindert das Wahlrecht die politischen Veränderungen in Grossbritannien zu lange.

●  In Frankreich hat der Präsident zu viel Macht, ohne dass diese in der Bevölkerung abgestützt wäre.

●  Deutschland tanzt seit langem um den anstehenden Regierungswechsel herum.

● In anderen Demokratien wie den USA, Italien oder Ungarn bestimmen autokratische Präsidenten oder populistische Parteien, durch Wahlen legitimiert, die Politik – und schränken Grundrechte ein.

Aufgrund der Coronakrise haben die Veranstalter Externer Linkdas Global Forum on Modern Direct Democracy, das für diesen Herbst in Bern geplant war, auf Frühling 2021 verschoben.

Die Weltkonferenz der Volksrechte und Bürgerpartizipation findet neu vom 28. April bis 1. Mai in der Schweizer Hauptstadt statt.

Berns Stadtpräsident Alec von Graffenried sieht in der Verschiebung auch eine Chance. “Gerade in der Nach-Corona-Zeit wird das Thema direkte Demokratie in vielen Länder von grosser Aktualität sein”, heisst es in einer offiziellen MitteilungExterner Link.

“Zudem kann die Schweiz als Gastland im nächsten Jahr aufgrund der Corona-Krise sehr praxisorientiert aufzeigen, wie eine moderne direkte Demokratie mit Herausforderungen, wie sie eine Pandemie stellt, politisch und gesellschaftlich umgeht”, so von Graffenried. 

Das jüngste Demokratie-Forschungsprojekt der Universität GöteborgExterner Link verzichtet zwar nicht auf das Ziel der liberalen Demokratie, denn Mehrheit und Rechtsstaat gehören zusammen. Es definiert aber den Weg dazu neu: Wichtiger als rein institutionelle Ausgestaltungen ist die Realisierung demokratischer Grundsätze.

Es geht um Prinzipien wie Freiheit und Gleichheit, Öffentlichkeit und Beteiligung. Sie sind die Voraussetzungen für funktionierende Wahlen. Ohne diese sei man bloss eine Wahldemokratie. Aber keine in liberalen Grundsätzen eingebettete.

In liberalen Prinzipien eingebettet war die Schweizer Demokratie schon 1848, sehr früh, bei der Gründung des Bundesstaates. Spätestens mit der Ausdehnung der politischen Rechte auf Frauen 1971 hat das Land eine liberale Demokratie erhalten.

Die Bewertung der Schweizer Demokratie fällt durch die Göteborger Politikwissenschafter darum vorteilhaft aus. 2019 standen wir an fünfter Stelle. Top sind wir bei den Partizipationsangeboten, beschränkt gut bei der Gleichheit.

Was das im Detail heisst, ist Gegenstand meiner neuen swissinfo.ch-Kolumne “Demokratie in der Schweiz aus internationaler Sicht”. Sie erscheint regelmässig im Vorfeld des “Global Forum on Modern Direct Democracy”Externer Link, das im September 2020 in der Bundesstadt Bern stattfindet.

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