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“Die Schweizer Demokratie ist ein Kunstprojekt mit Vorbildcharakter”

Stephan Lausch in Bozen mit einem Transparent für die Einführung des Referendums
Stephan Lausch (mit Schild) und seine Bürgerorganisation haben in Bozen den Weg zur Einführung der Volksinitiative und des Referendums gewiesen. flickr/dirdemdi

So schnell kann es gehen: Plötzlich sind die Schweiz und ihre direkte Demokratie international gefragt. In Deutschland und neuerdings auch in Frankreich fordern Bürgerbewegungen die Einführung der Volksinitiative und damit Volksentscheide auf nationaler Ebene. In der italienischen Provinz Bozen-Südtirol sind Volksrechte nach Schweizer Vorbild schon Tatsache. Stephan Lausch hat an dieser Erfolgsgeschichte mitgeschrieben.

Dieser Beitrag ist Teil von #DearDemocracy, der Plattform für direkte Demokratie von swissinfo.ch. Hier äussern auch aussenstehende Autorinnen und Autoren ihre Ansichten. Ihre Positionen müssen sich nicht mit derjenigen von SWI swissinfo.ch decken.

Die Frage ist heiss umstritten: Hat die Schweiz das Zeug, um anderen Ländern in Zeiten, wo Demokratie unter Druck steht, als demokratisches Musterbeispiel zu dienen?

Diese Frage haben aktive Bürgerinnen und Bürger in der Provinz Bozen-Südtirol längst beantwortet. Was die Italiener seit 2009 beweisen: Volksrechte lassen sich durchaus von der Schweiz übernehmen.

Wir haben darüber mit Stephan Lausch gesprochen. Der Vertreter der Initiative für mehr Demokratie in Bozen-Südtirol hat jüngst in Bern an einer Podiumsdiskussion über Lokaldemokratie teilgenommen.

swissinfo.ch: Welche Volksrechte wurden in Ihrer Heimat, dem Südtirol, eingeführt?

Stephan Lausch: Wir haben bei uns nach dem Modell der Schweiz die zwei Grundpfeiler der direkten Demokratie eingeführt: Die Volksinitiative und das Referendum. Letzteres ist für Italien ein Novum, also die Möglichkeit, dass das Volk eine Abstimmung über ein Gesetz verlangen kann, bevor dieses in Kraft tritt.

Stephan Lausch
Stephan Lausch jüngst an der Podiumsdiskussion in Bern. Politforum Käfigturm Bern

Ein weiterer Erfolg besteht darin, dass das Gesetz über die direkte Demokratie nun effektiv auch anwendbar ist. Eine erste Version hatte nicht funktioniert, weil die Gültigkeit einer Abstimmung an ein Quorum gebunden war. Also an eine Mindestbeteiligung, die bei 40% angesetzt war, also sehr hoch.

swissinfo.ch: Was sind die bisherigen Erfahrungen mit der direkten Demokratie in Südtirol?

S.L.: Diese waren wie angetönt leider negativ. 2009 gab es eine erste Abstimmung im Bundesland Bozen/Südtirol mit insgesamt fünf Volksinitiativen – sie sind alle an der Beteiligungshürde von 40% gescheitert. Zur Urne gingen damals 38% der Stimmberechtigten.

Das aber rief den Volkszorn hervor. Die Forderung war ein neues Gesetz über direkte Demokratie, in dem das Quorum auf 25% gesenkt wird. Seit Ende November 2018 ist dieses Gesetz nun in Kraft, diese Hürde ist also aus dem Weg geräumt.

Es hatte also diese Erfahrungen der Bürger und ihrer politischen Vertretung gebraucht, um zu einem anwendbaren Gesetz zu kommen.

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swissinfo.ch: Können Sie umgekehrt dem Vorbild Schweiz Inputs geben, was wir hier besser machen könnten?

S.L.: Das ist schwierig, weil wir immer hinterherhinken gegenüber dem, was in der Schweiz schon gilt. Aber wir haben doch etwas, was ihr nicht habt: Bei uns erhalten Initiativ- und Referendumskomitees eine Kostenvergütung. Dafür, dass sie als Promotoren ein Thema in der Bevölkerung bekannt machen.

Zudem ist das Sammeln und die Beglaubigung der Unterschriften doch ein grosser Aufwand. Das ist etwas, was die Schweiz nicht kennt. Das könnte eine Anregung für die Schweiz sein.

swissinfo.ch: Hier ist unter Fachleuten Wecollect ein Thema, eine Internet-Plattform, mit der Organisationen und Parteien auf semi-digitale Art und Weise Unterschriften für ihre Begehren sammeln können. Wäre das auch etwas für das Südtirol?

S.L.: Ja, sehr. Italien, zu dem wir per Gesetz gehören, funktioniert als Staat sehr bürokratisch. Es herrscht grosse Zurückhaltung gegenüber solchen Neuerungen. Vermutlich sind wir in Südtirol nicht in der Lage, diese Innovation autonom einzuführen, weil wir an der Gesetzgebung des Staates hängen.

Wecollect als Tool ist sicher gut. Nur sollte damit nicht das verloren gehen, was der Schweizer Politikwissenschaftler und Demokratiespezialist Andreas Gross als die “Seele der Demokratie” bezeichnet: Das Gespräch von Bürgerin zu Bürger auf der Strasse.

swissinfo.ch: Gibt es in Italien auch andere Provinzen, die sich von Ihrem Beispiel in Südtirol inspirieren lassen und die Instrumente der direkten Demokratie einführen wollen?

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S.L.: Ja, die Inspiration wirkt, aber auf Staatsebene. Beppe Grillo, der Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, wurde erstmals bei uns mit dem Gedanken der direkten Demokratie konfrontiert. Und Riccardo Fraccaro, der neue Minister für direkte Demokratie in der italienischen Regierung, hat sich auch in unserer Region mit dem Thema der Volksrechte auseinandergesetzt.

Fraccaros Pläne, in Italien die Volksinitiative einzuführen und das Beteiligungsquorum abzuschaffen, an dem rund ein Drittel aller bisherigen Vorlagen scheiterten, sind die Folgen unserer langjährigen Arbeit in Südtirol.

swissinfo.ch: Was ist die Demokratie Schweiz für Sie?

S.L.: Ein Kunstprojekt mit Vorbildcharakter. Sie kann ein Beispiel sein für die ganze Welt, und sie IST auch ein Beispiel. Die Schweiz verdankt die Demokratie auch ihrem offenen Geist. Denn es waren nicht nur Schweizer, die das System entwickelt haben, sondern auch Menschen, die aus den umliegenden Ländern hierher geflohen sind, weil sie in ihrer Heimat verfolgt worden waren.

Sie haben hier am offenen, liberalen politischen System mitgearbeitet. Das ist ein Geist, der in der Schweiz herrscht und der in der Welt Schule machen und verbreitet werden sollte.

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