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Wenig Herz für Tier- und Pflanzenarten

Blick auf das Rüttigut
Das Rüttigut: eine der traditionsreichsten landwirtschaftlichen Ausbildungsstätten der Schweiz. Intensive Landwirtschaft hat Vorrang vor der Biodiversität. swissinfo.ch

Schweizer Bäuerinnen und Bauern haben für Biodiversität wenig am Hut. Das gilt auch für die Nachwuchskräfte. Kein Wunder: In der Ausbildung lernen sie vor allem, wie man möglichst viel Ertrag aus dem Boden und den Nutztieren herausholt. Die Biodiversität wird an den Rand gedrängt. Ein Augenschein.

Millionenbeträge für Biodiversität

Mit der Artenvielfalt geht es in der Schweiz bergab, trotz grosser Anstrengungen, den Abwärtstrend zu stoppen. 36% der untersuchten Arten sind bedroht.

400 Millionen Franken zahlen die Schweizer Steuerzahler jährlich den Bauern allein für Leistungen zum Schutz der Biodiversität. Aber das Geld hat kaum eine Wirkung. Die Schweiz hat laut Pro NaturaExterner Link europaweit die intensivste Landwirtschaft. In den landwirtschaftlichen Kulturen werden viele wildlebende Tier- und Pflanzenarten seltener oder verschwinden gänzlich. Dies ausgerechnet in dem Berufszweig, der am unmittelbarsten von der Natur abhängt. Naturschutzorganisationen kritisieren, dass auch die jungen Bäuerinnen und Bauern in der Ausbildung viel zu wenig für ökologischen Landbau sensibilisiert werden.

“Die Ausbildung ist vor allem auf Produktion und Maschinenkunde ausgerichtet. Die Ökologie hat nur einen ganz kleinen Stellenwert”, bedauert Marcel Liner von Pro Natura.

Eine “Investition in die Zukunft” sei die landwirtschaftliche Ausbildung im INFORAMAExterner Link, verspricht das Bildungs-, Beratungs- und Tagungszentrum von seinem Angebot. Hier auf dem Rüttigut vier Kilometer vor der Stadt Bern wird seit mehr als 150 Jahren Landwirtschaft gelehrt. Die historischen Gebäude, die Betriebsgebäude und das umliegende Kulturland gehören dem Kanton Bern, der es in Pacht gegeben hat.

Aber in welche Zukunft wird hier investiert?

Die landwirtschaftliche Nutzung, die den angehenden Bäuerinnen und Bauern hier vorgelebt wird und wo diese auch Anschauungsunterricht bekommen, entspricht jedenfalls nicht den Zukunftsvorstellungen von Marcel Liner. Nach der Besichtigung des landwirtschaftlichen Betriebs, zeigt sich der Experte für Landwirtschaftspolitik bei der Umweltschutz-Organisation Pro NaturaExterner Link ernüchtert.

Eigentlich hatte der gemeinsame Rundgang mit swissinfo.ch recht erfreulich begonnen, nämlich auf einer Allee aus Hochstamm-Obstbäumen, die zum INFORAMA führt. Dass das asphaltierte Strässchen zeitweise rege befahren wird, liegt vor allem an den zahlreichen Studenten des Ausbildungszentrums, die den Schulweg mit dem Privatauto zurücklegen.

Naturschützer Liner, der trotz starkem Regen mit dem Zug angereist ist, findet Gefallen an den vielen Obstbäumen, die das Strässchen säumen. “Sie sind hoch genug für nistende Vögel”.

Die schöne Allee ist aber kein Vorzeichen für eine naturnahe Landwirtschaft, sondern eher ein vom Produktionsdruck verschontes Überbleibsel. Auf dem grossflächigen Kulturland rund um die landwirtschaftliche Schule wird der Lebensraum für wildlebende Tiere und Pflanzen an den Rand gedrängt. Die gesetzlich vorgeschriebenen Biodiversitäts-Förderflächen, für welche die Landwirte Geld vom Staat erhalten, wurden – wie fast überall in der Schweizer Landwirtschaft – so angelegt, dass die Produktionseinbusse möglichst gering ist: zum Beispiel im steilen, schattigen Gelände oder im Grenzbereich zu Bau- oder Infrastrukturzonen, wo auch der ökologische Nutzen begrenzt ist.

Hochstamm-Obst-Allee
Die Hochstamm-Obstbäume der-Allee auf dem Rüttigut sind hoch genug für Nistplätze. swissinfo.ch

Links und rechts der Allee ist die Kulturlandschaft weitgehend ausgeräumt. Will heissen: grosse, strukturarme, intensiv genutzte Mähwiesen, Felder und Äcker, selten ein Baum oder eine Hecke. “Für die Natur sind sie wertlos. Aber sie lassen sich halt mit den grossen Maschinen rational bewirtschaften.”

links artenarme Mähwiese, rechts artenreiche, extensive Wiese
Die stark gedüngte, artenarme Mähwiese auf dem Rüttigut (links) kann bis zu sechs Mal gemäht werden. Die artenreiche, extensive Wiese (rechts) darf frühestens am 15. Juni zum ersten Mal gemäht werden. swissinfo.ch

Die artenarmen Wiesen, die wenigstens ein bisschen Nahrung für wenige Insektenarten bieten würden, sind schon anfangs Mai zum ersten Mal gemäht worden. Auch dies ist ein Zeichen dafür, dass hier vor allem eine auf viel Ertrag ausgerichtete Landwirtschaft betrieben wird.

“Mähwiesen werden heute bis zu sechs Mal im Jahr geschnitten. Sie bestehen hauptsächlich aus Gräsern, die aus agronomischer Sicht zwar hochwertig sind, aber keinen Beitrag zur Artenvielfalt leisten. Wenn zum Beispiel eine Feldlerche hier brüten würde, wären ihre Eier von der Mähmaschine zerstört worden, bevor die Jungen hätten schlüpfen können.”

Linkes Foto: eng gesätes Getreidefeld,
Das enggesäte Getreidefeld auf dem Rüttigut (links) eignet sich weder für bodenbrütende Vögel noch für Feldhasen. Das Getreidefeld (rechts) mit Moon- und Kornblumen ist ein Refugium für viele Arten. swissinfo.ch / wikimedia.org

Ähnlich lautet Liners Urteil zum Getreideanbau. Weizen- oder Gerstenfelder könnten eine Augenweide sein, wenn das heranwachsende Getreide von Mohn- und Kornblumen begleitet würde.

Aber auf dem Rüttigut wurde eng gesät, intensiv gedüngt und Pflanzenschutzmittel eingesetzt. “Glyphosat steht im Verdacht, krebsfördernd zu sein. Und erwiesen ist, dass es die Regenwürmer vernichtet”, sagt der Naturschützer.

“Für bodenbrütende Vögel, die zwischen den Getreidehalmen unbewachsenen Boden benötigen, sind diese Felder kein Refugium. Auch für Feldhasen, die gerne weitgesäte Getreidefelder hätten, bieten sie keinen Lebensraum.”

Weshalb sind nicht wenigstens die Ränder der Getreidefelder mit einer bunten Ackerbegleit-Flora eingesät worden?

Liner versteht es nicht. “Nicht nur für die Natur, auch für die Sinne der vielen Passanten und Besucher wäre es doch eine Bereicherung.”

Im Zentrum des Betriebs, neben den alten Sandsteingebäuden, die als Schulräume genutzt werden, steht eine riesige Halle mit hohen Einfahrtstoren, die Platz für moderne landwirtschaftliche Maschinen bietet. “Nirgends auf der Welt gibt es pro Betrieb so viele Traktoren wie in der Schweiz”, kommentiert der Experte für Landwirtschaftspolitik.

Stolz ist er aber nicht auf diesen Weltrekord, im Gegenteil: “Weshalb kauft man so viele dieser Riesenmaschinen, die in der Regel weit mehr als 100’000 Franken kosten und durch ihr Gewicht den Boden verdichtenExterner Link?”

Linkes Bild intensive Obstplantage, artenreiche Obstplantage
Die Obstplantage auf dem Rüttigut (links) hat für die Natur fast keinen Nutzen. Der Obstgarten auf dem Bild rechts hingegen bietet viel Lebensraum für Tiere und Pflanzen. swissinfo.ch /Abigail MIller

Von den Schulzimmern aus ist der Blick nach Süden frei auf eine intensive Obstbau-Anlage, in der viel Geld steckt. Zum Schutz vor Hagelschlag sind die Niederstamm-Bäumchen mit Netzen überdacht.

“Was ich da sehe, ist alte Schule, wie man es machte, als das Artensterben noch weniger bekannt war. Der Nutzen für die Biodiversität ist gleich Null.”

Während der kurzen Zeit, in der die Bäume Blüten tragen, freuen sich die Bienen, aber danach ist für die Insekten hier gar nichts mehr zu holen.

“Unter den Bäumen wurde alles mit Herbizid totgespritzt. Da wächst nichts, obwohl es heute Maschinen gäbe, mit denen man wunderbar extensiv mulchen könnte.” Das heisst, dass die Flächen zwischen und unter den Obstbäumen nur zwei-drei Mal pro Jahr gemäht werden sollten, damit eine kräuterreiche FahrgasseExterner Link entsteht, die genügend Nahrung für die Insekten hergibt.


Schweinestall auf dem Rütigut (links), Biomastbetrieb (rechts)
Ob sich die Schweine im Stall des Rüttiguts (links) wohl fühlen? Besser geht es ihren Artgenossen auf dem Biobetrieb (rechts). Sie haben Bewegungsfreiheit und können sich im Schlamm suhlen. swissinfo.ch /Adrian Krebs

Die Nutztierhaltung auf dem INFORAMA-Gelände löst bei Liner ebenfalls keine Euphorie aus. Immerhin: Die Rinder haben einen modernen Auslaufstall mit viel Platz und natürlichem Licht.

Aber vor dem Schweinestall kann der Umweltschützer sein Bedauern mit den Tieren nicht verbergen: “Das sieht trostlos aus. Diese Verhältnisse entsprechen bei weitem nicht einer artgerechten Nutztierhaltung.”

Positiv ist immerhin, dass der Stall auf einer der schmalen Seite offen ist, was für bessere Luft und Tageslicht sorgt.

Direkt nebenan hätte es eine Wiese. “Wenn sie wenigstens eine Stunde ins Freie gehen könnten, wäre ihrem Bewegungsdrang ein bisschen Genüge getan.”

Das würde zwar einen Mehraufwand bedeuten,”aber heute liesse sich das automatisieren und mechanisieren”, sagt Liner.

Innenhof Rüttihof (oben), artenreiche Garten im Siedlungsgebiet
Der Innenhof auf dem Rüttigut (oben) hätte Potential für mehr Biodiversität, zum Beispiel so, wie in diesem Siedlungsgebiet (unten). swissinfo.ch / BirdLife Schweiz

Dass die Biodiversität auf dem Rüttigut wie vielerorts in der Schweizer Landwirtschaft keinen hohen Stellenwert geniesst, zeigt sich auch im grossräumigen Hof zwischen den historischen Gebäuden.

Die vielen kleinen Grünflächen, die hier artenarm sind, wären prädestiniert zur Förderung der Artenvielfalt.

Hätte Liner hier das Sagen, würde er – auch aus didaktischen Gründen – bunte Blumen und Kräuter wachsen lassen, spezielle Kleinstrukturen wie Steinhaufen, Trockenmauern, Schwalbentürme, Bienenhotels anlegen, die Lebensraum für Insekten, Vögel, Igel oder Fledermäuse böten.

Es brauchte halt jemand, der dafür ein Auge und vor allem ein Herz hätte.

Stellungnahme des Direktors

Weshalb hat die Biodiversität keinen höheren Stellenwert?

In seiner schriftlichen Stellungnahme weist Markus Wildisen, Direktor des INFORAMA, darauf hin, dass die verschiedenen Betriebe an den landwirtschaftlichen Ausbildungsstandorten im Kanton Bern unterschiedliche Ausrichtungen hätten. An einem der sechs Standorte stehe der Biolandbau im Mittelpunkt. Auf dem Rüttigut hingegen sei es der Ackerbau und die Tierhaltung. Der Kanton habe Ende der 1990er-Jahre alle Gutsbetriebe verpachtet. Mit den Pächtern bestehe nur noch eine Leistungsvereinbarung, um die für die Bildung und Beratung notwendigen Dienstleistungen sicherzustellen.

Die Schule erwarte vom Pachtbetrieb eine Produktion, die den Bildungsauftrag verkörpern, also wirtschaftlich sein und dem Schutz der Natur Rechnung tragen soll.

Der Betrieb mache für die Förderung der Artenvielfalt mehr als das Gesetz verlange. So sei der Anteil der Biodiversitäts-Förderflächen mit 10,4% grösser als die vorgeschriebenen 7%. “Aber es gibt noch Potenzial für zusätzliche Elemente und eine stärkere Betonung.” Darüber müsste man diskutieren und verhandeln, denn die Gesellschaft erwarte von der Landwirtschaft nicht nur eine ökologische, sondern auch eine marktwirtschaftliche Produktion, schreibt Wildisen.

Darüber hinaus erbringe der Pachtbetrieb auch Dienstleistungen für die Forschung. Dazu gehöre zum Beispiel ein international beachteter Langzeitversuch zur Bodenbearbeitung im Ackerbau.

“Der Fokus dieser Versuche liegt insgesamt primär auf einer nachhaltigen Produktion von Nahrungsmitteln.”

Für die Ausbildung der Lernenden sei aber nicht nur der Pachtbetrieb als Anschauungsobjekt relevant. “Die Ökologie und die Biodiversitätsförderung sind integraler Bestandteil der Bildungspläne und Lernziele”, schreibt der Direktor.

Weshalb kein Vorzeigebetrieb für naturnahe Landwirtschaft?

In der Umgebung der Schule fänden sich zahlreiche Ökostrukturen und Ökoelemente (extensive Wiesen, Biotope, neu angelegte Flächen und Hecken mit einheimischen Arten), worin sich auch seltene, in der Schweiz gefährdete Arten befänden, argumentiert Wildisen.

Was die Getreideproduktion betreffe, sei eine wirtschaftliche Pflanzenproduktion aus Gründen der Licht-, Nährstoff- und Wasserkonkurrenz ohne Unkrautregulierung nicht möglich.

“Die Obstanlage ist eine Unterpacht des Pachtbetriebs. Für die Anforderungen des INFORAMA (Bildung und Beratung) brauchen wir diese Anlage nicht.”

Der Schweinestall sei effektiv in die Jahre gekommen und entspreche nicht mehr den heutigen Anforderungen, bestätigt der Direktor. “Eine Diskussion zur Zukunft des Schweinestalls ist am Laufen.”

Stolz ist Wildisen hingegen auf den neuen Rindviehstall, “der hinsichtlich Tierwohl und Möglichkeiten für Bildung, Beratung und angewandte Forschung ein nationales Leuchtturm- und Vorzeigeprojekt darstellt”.

Rinderstall
Der Stolz des Rüttiguts: Im Vorzeige-Rinderstall ist viel Platz und Licht. swissinfo.ch


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