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Streit um Mist und Gülle auf der idyllischen Alp

Weiden auf der Engstlenalp zu viele Kühe? swissinfo.ch

Auf eine echte Alp gehören Kühe, Ziegen oder Schafe. Ohne diese Nutztiere würden die bunten Blumenwiesen verschwinden. Aber wenn die Herden zu gross sind, schaden sie der Artenvielfalt, weil die Tiere zu viel fressen und Mist produzieren.

Wenn der Himmel aufhellt, der Nebel sich verzieht und die Sicht auf schneebedeckte Gipfel, Bergseen und Kuhweiden freigibt, erfahren manche Leute ein Glücksgefühl.

Genauso geht es an dem sonnigen Augustmorgen auch den einzigen vier Passagieren des ersten Postautokurses, aber auch den zahlreichen anderen Gästen, welche die Engstlenalp mit Privatwagen erreichen.

Sandro zum Beispiel, der nur seinen Vornamen verraten will, hat Freunde aus Chile und Kolumbien mit seinem Auto auf die Alp geführt, um ihnen die “Schönheit der Bergwelt zu zeigen und am Bergsee gemütlich zu picknicken”.

Der junge Mann hat Grillkohle und -flüssigkeit dabei, obwohl überall darauf aufmerksam gemacht wird, dass es verboten sei, im Naturschutzgebiet Feuer zu entfachen. Er werde die Grillstelle im ausgetrockneten Bachbett anlegen. “Das schadet der Natur nicht.”

Wilhelm van Vlastein, der mit seiner Frau und sechs Kindern die Ferien in der Region verbringt, ist von der Landschaft, der Ruhe und der Weiträumigkeit beeindruckt. “Die Menschen sind so gering im Vergleich zu den mächtigen Bergen. Und meine Frau ist von den vielen schönen Blumen begeistert. In Holland gibt es diese Vielfalt nicht.”

Die Engstlenalp liegt auf 1800 m ü. M. im hinteren Gental oberhalb von Meiringen im Berner Oberland. Weil auf der Alp während Jahrhunderten eine naturnahe Milchwirtschaft betrieben wurde, entstand eine Kulturlandschaft von besonderer Schönheit.

Älpler und ihre Nutztiere sorgten dafür, dass die Matten Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten boten. Würden die Alpen nicht beweidet, wären sie längst verwildert (Verbuschung, Verwaldung) und viele Pflanzen-, Schmetterlings- und Vogelarten verschwunden.

“Bunte Blumenwiesen in den Alpen sind ein Zusammenspiel von Natur und sorgfältiger Landwirtschaft”, erklärt Hans Fritschi von der Naturschutzorganisation Pro Natura, einer der vier Passagiere im Postauto. Die Erhaltung der Alpwirtschaft liege deshalb nicht nur im Interesse der Landwirtschaft, sondern auch des Tourismus.

Dass die Vielfalt der Pflanzen für viele Gäste so faszinierend ist wie Schneeberge, Wasserfälle oder Schluchten, bestätigt auch Roger Wernli aus Basel. Heute Morgen ist er von Melchsee-Frutt auf die Engstlenalp gewandert. Wernli lobt die Schönheit der Landschaft, “den Bergsee, die Pflanzen, die Farben”. Der Bergfrühling sei zwar vorüber, aber weiter oben habe er noch Orchideen, Glockenblumen und Alpenrosen bewundern können.

Des Guten zu viel?

Weil die alten Senntümer auf der Engstlenalp nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügten, wurde vor 10 Jahren für 1,7 Millionen Franken eine moderne Schaukäserei gebaut. “Eine überdimensionierte”, sagt Hans Fritschi.

“Um die Käserei auszulasten, werden entsprechend viele Milchkühe auf die Alp gebracht.” Das Vieh produziere zu viel Gülle und Mist, wodurch das Nährstoff-Gleichgewicht für die Pflanzen gestört werde und die Biodiversität irreversible Schäden nehme.

Magere Wiesen mit ihrer einmaligen Flora drohen zu verschwinden. Pflanzenarten, die nährstoffreichen Boden bevorzugen, nehmen Überhand zulasten von eher zarten Pflanzen, was zu einer Verarmung der Vegetation führt.

“Auf der Engstlenalp wartet man, bis die Tourismussaison vorbei ist, dann wird die Gülle auf der Matte ausgebreitet. Auch Steine, die mit wertvollster Vegetation übersetzt waren, haben sie einfach eingedeckt.” Es gebe auch einen aktenkundigen Fall von Gewässer-Verschmutzung, ärgert sich Hans Fritschi. “Ein grosser Teil der Alp befindet sich im Naturschutzgebiet, aber auch darin wird gefrevelt.”

“Sie fressen viel mehr”

“Wir hätten früher kommen sollen”, bedauert Ruth Schaub, die mit ihren Grosskindern in der Nähe des Bergsees spielt. “Die Kühe waren schon überall in den Matten, es hat fast keine Blumen mehr.”

Auch eine Gruppe Jugendlicher schlendert dem Uferweg entlang. Die jungen Leute sind bei Monika zu Besuch, die einen Sommer lang im Gental beim Sennen hilft. Vom Problem einer Übernutzung hört die junge Älplerin nicht zum ersten Mal. “Früher hatten sie auch schon viele Tiere auf der Alp. Aber die Kühe von heute fressen viel mehr, weil sie auch mehr Milch geben. Um sie richtig zu ernähren, gibt die Alp nicht mehr genügend Futter her.”

Die Alp werde so bewirtschaftet, wie es die Vorfahren schon immer gemacht hätten, sagt Bruno Kehrli, der Präsident der Alpgenossenschaft, gegenüber swissinfo.ch. “Seit 2002 die neue Käserei gebaut wurde, wird über die richtige Anzahl Kühe diskutiert. Die Verhandlungen befinden sich jetzt in der letzten Runde. Bis der Entscheid gefallen ist, nehmen wir gegenüber den Medien keine Stellung.”

In der Schaukäserei erfahren die Gäste, dass auf der Alp 170 Kühe, 150 Rinder, 70 Kälber und 125 Schafe gesömmert werden. Ob das zu viele Nutztiere sind oder nicht, weiss man bei der Abteilung Naturförderung des Kantons Bern noch nicht: “Die Alp weist eine Vielfalt unterschiedlicher, teilweise artenreicher Weidetypen auf”, sagt Abteilungsleiter Urs Känzig gegenüber swissinfo.ch. Es gebe aber auch grössere Bestände an Blacken, Brennnesseln und anderen Stickstoffzeigern, ein möglicher Hinweis auf eine unausgeglichene Nährstoffbilanz.

Warum erst jetzt?

Für eine genaue Beurteilung sei eine so genannte Vegetations-Kartierung nötig: “Die Fachleute untersuchen dabei, was auf den Matten wächst. Daraus können sie den Futterwert und den optimalen Bestand der Nutztiere ableiten”, erklärt Urs Känzig.

Anders als im Unterland lasse sich der Futterwert einer bunten Alpenwiese durch zusätzliche Düngung nicht wesentlich steigern. Der Widerspruch zwischen ökologischen und langfristigen wirtschaftlichen Interessen sei auf der Alp gar nicht so gross. “Für die Erhaltung der Futterqualität ist ungefähr die gleiche Nährstoff- und Wasserversorgung nötig wie für eine artenreiche Matte.”

Die Frage, weshalb nicht schon vor 10 Jahren beim Bau der Käserei abgeklärt wurde, wie viele Kühe für die Alp verträglich sind, gibt Känzig weiter. “Das wäre Aufgabe der Alpschaft. Aber weil sich diese geziert hat, haben wir einen Bewirtschaftungsplan in Auftrag gegeben und diesen auch bezahlt.” Das Ergebnis sollte im Herbst vorliegen.

Weil sie bessere Rahmenbedingungen geschaffen habe für die alpwirtschaftliche Nutzung in Kombination mit einer ökologischen Aufwertung des Gebiets, hat die Gemeinde Mörel-Filet im Oberwallis im Juni 2012 den Naturschutzpreis der Beugger-Stiftung im Wert von 50’000 Franken erhalten.

Auf der Alp werden die nachhaltige Pflege der Weiden, aber auch der Waldreservate vertraglich gesichert, neue Feuchtbiotope angelegt und verbunden, sowie eine historische Wasserleitung saniert.

Pro Natura vergibt den Preis im Auftrag der Emanuel und Oscar Beugger-Stiftung alle zwei Jahre an beispielhafte Naturschutzprojekte in der Schweiz.

Ausgezeichnet werden Projekte aus den Sparten “Arten- und Landschaftsschutz”.

Die Alpen sind die blumenreichste Region Europas. Mit ihren etwa 500 Gefässpflanzen beherbergen sie rund drei Siebtel der europäischen Flora.

Für ihre Erhaltung braucht es die Berglandwirtschaft. Die Bauern haben dieses Land seit jeher kleinräumig und angepasst an die Gelände-, Boden- und Wasserverhältnisse genutzt.

Ohne Alpwirtschaft ginge dieser artenreiche Lebensraum verloren, weil das Berggebiet der Nordalpen in wenigen Jahren fast überall bis auf 1700 Meter oder höher (Wallis, Graubünden) bewaldet wäre.

In der Schweiz haben die Alpweiden seit den 1980er-Jahren abgenommen, weil sie nicht mehr bewirtschaftet werden. Viele sind verwildert oder vom Wald zurückerobert worden.

Aber auch auf den bewirtschafteten Alpen hat ein Artenschwund eingesetzt. Einige Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben, viele sind bedroht.

Mit ein Grund für diese Entwicklung sind Übernutzungen. 

Heute weiss man aus Langzeit-Versuchen (Vgl. Link), dass Überdüngung – auch einmalige – nicht nur kurzfristig, sondern über Jahrzehnte hinweg negative Auswirkungen auf die Biodiversität hat.

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