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Kurt Sieber: 57 Jahre in Japan – Gedanken eines Pensionärs

クルト・イー・シーベルさん
Kurt E. Sieber beim Interview in einem Café in Tokio. swissinfo.ch

1960 zog er nach Japan. Der Schweizer Kurt E. Sieber war Geschäftsführer von Schweizer und österreichischen Firmen. 2011 ging er mit 73 in Pension – und kehrte nicht zurück in die Schweiz. Wie sieht und empfindet er dieses Land, in dem er schon so lange lebt? Mit welchen Herausforderungen hat die japanische Gesellschaft zu kämpfen?

“Meine Sicht auf Japan hat sich in den 57 Jahren, die ich nun in Tokio lebe, sehr verändert”, sagt Kurt Sieber. “Ich habe viel nachgedacht über Japans Stellung in der Welt, die japanische Wirtschaft und Politik, die Frage, was getan werden müsste, um die gesellschaftlichen Probleme in den Griff zu bekommen.”

Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten, unter anderem zum Gastland und über dessen Politik, sind ausschliesslich jene der porträtierten Person und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

An einigen Beispielen erklärt er, was ihn aktuell besonders beschäftigt.

Fehlender Reformwille der japanischen Wirtschaft

In der japanischen Wirtschaft haben über Jahre hinweg keinerlei Reformen stattgefunden. Japan wird nach den USA und China als bedeutende Wirtschaftsmacht wahrgenommen, doch in Wahrheit ist es ein hochverschuldetes Land. Die Schuldenlast verglichen mit dem jährlichen BIP entspricht fast dem Doppelten von Griechenland. Man fragt sich bange, ob Japans Finanzwirtschaft nicht irgendwann kollabiert. Die Befürchtung ist nicht aus der Luft gegriffen.

Ganz allgemein hat in den vergangenen zwanzig Jahren die Armut in Japan zugenommen. Beunruhigend ist besonders die Tatsache, dass eines von sieben Kindern mittlerweile in ärmlichen Verhältnissen aufwächst.

Die Art und Weise, wie gearbeitet wird, ist verbesserungsbedürftig. Auch sollten die langen Arbeitszeiten verkürzt und mehr Möglichkeiten für Heimarbeit geschaffen werden. Eine flexiblere, den unterschiedlichen Bedürfnissen angepasste Gestaltung der Arbeitswelt würde sicher helfen, die Geburtenrate zu erhöhen. Aber vor allem ist es notwendig, produktiver und nicht länger bis zum Selbstmord zu arbeiten.

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Halbherzige Bekämpfung des Bevölkerungsrückgangs

In Tokio gibt es unzählige Möglichkeiten, sich zu vergnügen. So viele, dass die Menschen in Tokio nicht einmal mehr Zeit für Sex haben (lacht). Vielleicht ist das ein Grund, warum hier in der Grossstadt mit 1,1 Kindern pro Frau im Vergleich zu ländlicheren Gegenden Japans so wenige Kinder zur Welt kommen.

Die sinkende Geburtenrate, gekoppelt mit der zunehmenden Überalterung, ist eines der grössten und folgenreichsten Probleme Japans. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Anzahl Einwohner die 100-Millionen-Grenze unterschreiten wird. Aus diesem Grund propagiert die Regierung Abe eine Erhöhung der Geburtenrate auf 1,8 Kinder pro Frau, aber selbst das ist weit entfernt von den 2,07 Kindern, die nötig sind, um den Bevölkerungsschwund aufzuhalten.

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Dringend nötig: Einwanderung

Japan ist auf gut ausgebildete Migranten angewiesen, die dem Land mit ihren Fähigkeiten aus der Misere helfen könnten. Aus beruflicher Erfahrung weiss ich, dass Investoren sich nichts mehr wünschen als eine Zunahme der Bevölkerung, was wiederum eine Zunahme der Güterproduktion bewirken und dem japanischen Markt nachhaltig Schwung und Perspektive verleihen würde. Damit könnten auch Investitionen aus dem Ausland gefördert und die Abwanderung von japanischer Produktion nach Übersee gebremst werden.

In der Schweiz mit ihren 8,4 Mio. Einwohnern beträgt der Ausländeranteil ca. 25%. Japan hat heute 126 Mio. Einwohner, wovon nur 2% Ausländer, was es natürlich schwieriger macht, Massnahmen und Änderungen politisch durchzusetzen. Ausserdem ist Japan eine Insel, geopolitisch also nicht mit einem Land wie der Schweiz vergleichbar.

Und dennoch kann Japan von der Schweiz lernen – besonders, was den Umgang mit und die Integration von Ausländern betrifft. In einer sich zunehmend globalisierenden Welt muss Japan offener sein für fähige Zuwanderer und sie als wichtigen Teil der Gesellschaft akzeptieren. Ich wünsche mir sehr, dass Japan – ähnlich wie die Schweiz – ein kosmopolitisch orientiertes Land wird. Olympia 2020 in Tokio könnte helfen, diesem Ziel ein wenig näher zu kommen.

Frauen sollen sich frei entfalten können

Ich habe vier Kinder, drei Töchter und einen Sohn. Alle sind in Japan geboren und bis zur Mittelschule aufgewachsen. Meine Töchter mögen Japan sehr, aber es ist hier für Frauen nicht einfach, ausserhalb der Familie aktiv zu sein, Karriere zu machen, sich frei zu entfalten. Deshalb haben sie den Weg in die USA gewählt.

Für Frauen ist es in Japan nicht einfach, höhere Positionen zu erlangen. Was die Gleichberechtigung von Frauen und Männern betrifft, nimmt Japan im Gleichstellungsbericht 2016 von 144 Ländern den 114. Platz ein, Tendenz sinkend. Frauen sollten in Japan viel mehr Chancen haben, sich nicht nur in der Familie, sondern auch im Beruf zu engagieren. Dafür braucht es ein kinderfreundliches Arbeitsumfeld und eine Gesellschaft, die bereit ist, die klassischen Rollenmuster zu überdenken und eine vernünftige “Work-Life-Balance” zu gestalten.

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Was die Schweiz von Japan lernen kann

Die Freundlichkeit und das Durchhaltevermögen der Japaner unter schwierigen Bedingungen – daran könnte man sich in der Schweiz ein Beispiel nehmen. Diese Freundlichkeit ist einer der Gründe, warum ich bis an mein Lebensende in Japan bleiben werde. Ein weiterer Grund ist die öffentliche Sicherheit und die geringe Kriminalität. Gewiss, auch die Schweiz ist ein relativ sicheres Land, aber eine Insel wie Japan ist natürlich besser geschützt. Die Schweiz und Japan haben ganz andere kulturelle Hintergründe, aber ich mag auch die japanische Kultur, vor allem “Hiroshige Prints”, sehr.

Mein Lebensabend in Japan

2011, als es zur Nuklearkatastrophe in Fukushima kam, war nicht abzusehen, wie sich die Situation entwickeln würde. Die Schweizer Botschaft und auch meine Firma riet den Angestellten, nach Osaka zu dislozieren, worauf alle ihre Koffer packten. Ich entschied mich, in Tokio bei meiner japanischen Gattin zu bleiben, die mich während den 40 Jahren seit unserer Heirat jederzeit voll unterstützt hat.

Zwar fallen einige meine Bemerkungen zur japanischen Gesellschaft recht kritisch aus, doch zeigen sie auch, wie sehr mir Japan am Herzen liegt. Ich liebe Japan, und ich glaube, dass es noch viel Raum für Veränderungen zum Besseren gibt.

NZZ-Artikel aus dem Jahr 1973
Ein Artikel zum Thema Hyperinflation. Ausschnitt aus der NZZ vom 25.11.1973, den Sieber sorgfältig aufbewahrt. swissinfo.ch

Nationalität? Schweizer

Nach 57 Jahren in Japan höre ich oft: “Du bist wie ein Japaner.” Aber darauf antworte ich: “Nein, ich bin kein Japaner.” Ich habe auch nie daran gedacht, Japaner zu werden. Warum nicht? Weil ich dann den Schweizer Pass abgeben müsste. Das will ich auf keinen Fall. Der Schweizer Pass hat für mich einen hohen Wert und eine besondere Bedeutung.

Meine Grossmutter floh aus Deutschland in die Schweiz, als nach der Weimarer Republik die Nazis an die Macht kamen, und heiratete meinen Grossvater in Zürich. Ich kann bis heute nicht vergessen, wie sie mir in den 1950er-Jahren das Schlafzimmer ihrer kleinen Zürcher Wohnung zeigte, das auf der ganzen Wand mit 1-Milliarde-Mark-Reichsbanknoten tapeziert war!

Die Noten waren während der “Hyperinflation” der Weimarer Republik in Umlauf gewesen. Gerade, weil ich weiss, wie wichtig für meine geflohene Grossmutter die Schweizer Staatsbürgerschaft gewesen war, kann ich nicht anders, als diese auch heute in Ehren zu halten.

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(Übertragung aus dem Japanischen: Thomas Eggenberg)

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